NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
gab es kaum mehr Wahl-oder Entscheidungsmöglichkeiten unabhängig von den individuellen Profilen. Wann immer ich etwas suchte, ansehen oder kaufen wollte, mit jemandem in Kontakt treten oder mich einfach ablenken wollte, die Daten meines Profils waren immer zuerst da. Sie waren die bevorzugten Ansprechpartner für die Algorithmen, erst dann kam ich. Ich war mein Profil.
Wir haben damals nicht absehen können oder wollen, was das bedeutete. Dass letztlich die von uns gestalteten und sukzessive durch Datenverknüpfung erweiterten Profile nicht nur ein algorithmisch nutzbarer Berechnungsraum dafür waren, uns als potentielle Kunden, Partner, Freundeoder Gleichgesinnte anzusprechen. Darüber haben sich die Philosophen damals den Kopf zerbrochen. Unser epistemologisches Ich wurde immer mehr aus Datensammlungen und in Datenräumen entworfen, aber es war eben nicht allein digitales Abbild unserer selbst, sondern beeinflusste in seiner Existenz und in seinem wachsenden Einfluss auch unser ontologisches Ich. Das Profil wirkte auf uns zurück, und irgendwann verschmolzen wir mit ihm. 27 Ich wurde mein Profil.
Weil all dies für die Politik eher unverständlich war, hatte sie dann irgendwann einfach einmal entschieden, dass es so nicht weitergeht. Deshalb wurde das «Persönlichkeitsstabilisierungsergänzungsgesetz» beschlossen, das diese Logik unterbrechen sollte. Nach diesem Gesetz musste jeder Bürger einen Tag in der Woche als «Datenfreiheitstag» anmelden. An diesem Tag wurde durch Zentralzugriff auf die persönlichen Datennetze die Verbindung der eigenen Computer mit dem globalen Netzwerk gesperrt. Natürlich hieß dies nicht, dass wir nicht mehr ins Netz gehen konnten. Eine solche Idee hätte zu der Zeit bereits einen Bürgeraufstand provoziert. Wir konnten ins Netz, aber dafür brauchte man ein «BlankPad», einen profilfreien Rechner mit bislang ungenutzter I P-Adresse und ohne Cookies, der gegen eine minimale Leihgebühr zur Verfügung gestellt wurde und auch nur einen «Datenfreiheitstag» lang gebraucht werden durfte. Denn danach war ja bereits wieder ein Such-und Nutzungsprofil des Einzelnen auf diesem Rechner entstanden, und das machte es unmöglich, sich ein zweites Mal voraussetzungsfrei im Netz zu tummeln.
Das alles war ein einfacher Vorgang. Wir konnten unsere «Datenfreiheitstage» online anmelden, und es wurde uns automatisch ein «BlankPad» zugewiesen und frei Haus zugestellt. Das war damals das Hauptgeschäftsmodell der analogenPost, die sonst ja kaum noch Dinge zu transportieren hatte, da niemand mehr Briefe schickte und alles elektronisch abgewickelt wurde. Das Problem an diesen «Datenfreiheitstagen» war, dass man sie einmal pro Woche nehmen
musste
. Man konnte also zum Beispiel nicht für die Freiheitsgleitzeit optieren und die Tage dann am Stück beanspruchen. Und wenn man einen Tag angemeldet hatte und die entsprechende Woche hatte begonnen, dann ließ sich dieser Tag nicht mehr verschieben. Natürlich entstand alsbald eine alternative politische Bewegung gegen den «Zwang zur Freiheit», und die ganze Sache wurde ein Riesenthema. Viel schlimmer aber war letztlich, was mit den Menschen geschah. Ich habe Freunde erlebt, die weinend vor ihrem «BlankPad» saßen, die Haare zerrauft, wie Drogensüchtige auf Entzug, und die wie im Gebet nur noch wiederholen konnten «ich will mein Profil zurück», «ich will gefunden werden».
Ich habe ein wenig die akkurate Erinnerung an Zeit verloren, einfach weil sie heute ja keine Bedeutung mehr hat. Aber wenn ich suchen würde, käme ich vermutlich zu dem Ergebnis, dass es nicht einmal ein Jahr gedauert hat, bis dieses Gesetz zurückgenommen und der «Datenfreiheitstag» wieder abgeschafft wurde. Diese politische Niederlage hat dazu gereicht, alle weiteren Versuche, das Verhältnis von Mensch und Computer politisch zu beeinflussen oder gar zu steuern, im Keim zu ersticken. Das Leben war längst im Netz. Wer den Menschen vom Netz trennen wollte, schien ihn von seinem Leben trennen zu wollen. Wer der Vernetzung weitreichende Regeln auferlegen wollte, schien den Menschen in seinem Innersten, seinem Wesenskern, regulieren zu wollen. Keine besonders erfolgversprechende Voraussetzung für politische Akzeptanz.
Eine andere, frühere Regulierungsinitiative hatte wenigerAufruhr hervorgerufen, aber ebenso wenig zum Erfolg geführt. Weil es zu Körperzeiten gelegentlich eine unangenehme Sache war, an seine digitale Vergangenheit erinnert zu werden, die in Fotos,
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