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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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Befreiung vom Kampf um das Andere, vom Widerstand gegen den Unterschied. Wir brauchen die Empathie heute nicht mehr, weil wir alles über alle wissen, jede Information mit jeder anderen verknüpfen können und jeden Status, jeden Modus einerjeden Phase der Menschengeschichte mitfühlen können. Ich bin nicht sicher, ob dieses Wort heute noch das trifft, was ich hier beschreibe. Mitfühlen kann man ja nur, was schon an anderer Stelle gefühlt wird. Und da es die andere Stelle nicht mehr gibt, passt auch dieses Wort nicht mehr. Wir spüren, was in jedem Augenblick gefühlt wird, denn wir sind Teil von allem. Und wir können nachfühlen, was in unseren Datenspeichern abgelegt ist. Manchmal schleicht sich der alte Sprachgebrauch ein. Das liegt daran, dass ich mich ja mit den Geschichten und ihren verschiedenen Erzählungen über die früheren Zeitphasen hinweg beschäftige. Und da gab es viele Beispiele für Erzählungen, die vorweggenommen haben, was nun in der Systemzeit wirklich geworden ist.
    Gleich zu Beginn von Salman Rushdies Erzählung «Die Mitternachtskinder» sagt Saleem Sinai: «Ich habe Leben verschlungen; und um mich, nur mich allein, kennenzulernen, müssen Sie auch das Ganze verschlingen.» Saleem Sinai ist einer derjenigen Menschen, die genau um Mitternacht am 15. August 1947 geboren wurden. An jenem Tag der Körperzeit also, an dem das damalige Indien in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Die zu diesem Zeitpunkt Geborenen verfügen in der Erzählung über besondere Fähigkeiten. Sie können die Gedanken anderer Menschen lesen und sogar zwischen ihnen vermitteln.
    So ist es auch mit uns, die wir an der Schwelle des Augenblicks geboren wurden, da die Körperzeit in die Systemzeit übergegangen ist. Es war für den Moment betrachtet mehr als eine zeitliche Sekunde, in der dies stattgefunden hat. Aber gemessen an den Milliarden von Jahren der Menschheit und ihrer Entwicklung in der Körperzeit war es doch nur ein Wimpernschlag, in dessen kleinstem Moment der Augenblick auf den Übergang gerichtet war, auf eine Transformationvon Hier in Allgegenwärtig und von Jetzt in Immerfort. Wir haben auch plötzlich die Gedanken aller Menschen lesen können, gespeichert und ausgewertet über alle Zeiten und alle Formen, in denen gedacht wurde. Und vielleicht haben wir auch vermitteln können zwischen dem, was war, und dem, was wurde. Vielleicht war eine solche Vermittlung aber auch gar nicht mehr nötig, weil anders als in der Erzählung Salman Rushdies letztlich eine vollkommene binäre Verwandlung vollzogen wurde. Wir wurden von 1 auf alles gestellt und von 0 auf unendlich. Wir hatten Welten verschlungen in diesem Augenblick, und wer immer nun nur einen von uns kennenlernen wollte, musste das Ganze verschlingen, das in uns aufgegangen war.
    Diese Geschichte hat schon vor langer Zeit davon erzählt, was werden würde. Eine kluge Geschichte, vorausschauend auch. Es scheint immer eine menschliche Eigenschaft und Befähigung gewesen zu sein, über sich selbst hinauszuschauen und hinauszuweisen. Letztlich war es gleichgültig, ob die damit verbundenen Ideen und Vorhersagen zutreffend waren und irgendwann eingelöst wurden. Sie hatten eine Wirkung. Denn ein einmal gedachter Gedanke war in der Welt. Ein einmal entwickeltes Szenario beeinflusste das, was nach dem Moment seiner Entstehung kommen konnte. Ich habe ja schon das Phänomen der Rückbezüglichkeit erwähnt. Hier sind wir wieder mit ihm konfrontiert. Eine Geschichte war eine Geschichte, oft ganz Fiktion. Und dann war eine Geschichte immer auch Teil der Wirklichkeit. Denn allein die Tatsache, dass es sie gab, dass Menschen sie erzählten und verbreiteten, über sie sprachen, sie mochten oder ablehnten, machte sie zu einem Teil der menschlichen Lebenswelt.
    Ich finde diesen Aspekt rückblickend ganz besonders ungewöhnlich. Er bezeichnet sehr klar einen wesentlichenUnterschied zwischen der Körper-und der Systemzeit. Damals gab es viele Geschichten, die nicht nur im soeben beschriebenen Sinne Teil der Wirklichkeit wurden. Es gab auch solche, die Wirklichkeit veränderten, die die Welt plötzlich anders aussehen und die Menschen darin anders handeln ließen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür. Eines hat sehr viele Tags in meinen Archiven, ich habe es immer schon besonders gemocht. Es ist die Geschichte von Harriet Beecher Stowe, einer Erzählerin aus dem damaligen Nordamerika, die sehr früh in ihrem Buch «Onkel Toms Hütte» über das unwürdige Dasein der

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