Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
Vom Netzwerk:
anzunehmen, war ich zu anmaßend. Wenn ich den Leuten schöntun wollte, tat ich ihnen weh. Besonders, wenn ich sie um Hilfe bat. Wissen Sie, ich gehöre zu den Narren, die glauben, die Leute, Freunde jedenfalls, müßten erraten , wenn man in Not ist. Muß ein armer, schmutziger Bettler erst Ihr Herz zum Bluten bringen, bevor Sie ihm ein Geldstück hinwerfen? Nicht so, wenn man ein anständiger und fühlsamer Mensch ist. Wenn man ihn mit gesenktem Kopf im Rinnstein nach einem weggeworfenen Zigarettenstummel oder einem Stück Butterbrot suchen sieht, das gestern jemand fallen gelassen hat, hebt man ihm den Kopf, umarmt ihn, besonders wenn er von Läusen wimmelt, und sagt: ‹Was ist mit dir, Freund? Kann ich dir irgendwie helfen?* Man geht nicht an ihm vorüber und schaut mit einem Auge nach einem Vogel, der auf einem Telegrafendraht sitzt. Man wartet nicht, bis er mit ausgestreckten Händen hinter einem herläuft. So sehe ich die Sache. Kein Wunder, daß so viele einem Bettler nichts geben, wenn er sie anspricht. Es ist demütigend, auf solche Weise angeredet zu werden, man fühlt sich schuldig. Wir sind alle auf unsere eigene Weise freigebig. Aber im Augenblick, wo einer um etwas bettelt , verschließen sich unsere Herzen.»
    «Miller», sagte Reb, sichtlich bewegt durch diesen Ausbruch, «Sie sind, was ich einen guten Juden nennen würde.»
    «Ein zweiter Jesus, was?»
    «Ja, warum nicht? Jesus war ein guter Jude, obgleich wir zweitausend Jahre seinetwegen haben leiden müssen.»
    «Die Moral von der Geschichte ist: gib dir nicht zuviel Mühe! Versuche nicht, zu gut zu sein.»
    «Man kann nie zuviel tun», sagte Reb hitzig.
    «O ja, man kann. Tu, was nötig ist, das ist gut genug.»
    «Ist das nicht dasselbe?»
    «Fast. Es ist doch so: Gott sorgt für die Welt. Wir sollten für einander sorgen. Wenn der Herr Hilfe gebraucht hätte, um diese Welt in Ordnung zu halten, hätte er uns größere Herzen gegeben. Herzen , nicht Gehirne.»
    «Jesus!» sagte Reb. «Sie sprechen ja wie ein Jude. Sie erinnern mich an manche Rabbis, die ich als Kind hörte, wenn sie das Gesetz erklärten. Sie sprangen wie Ziegen von einer Seite des Zaunes an die andere. Wenn es einen fror, bliesen sie einen heiß an und umgekehrt. Man wußte nie, woran man mit ihnen war. Ich meine: so leidenschaftlich sie waren, sie predigten immer Mäßigung. Die Propheten waren die wilden Männer, sie waren eine Klasse für sich. Die Gottesfürchtigen schrien und tobten nicht. Sie waren heiter, still wie ein See. Sie waren rein. Und Sie sind auch rein. Das weiß ich ganz gewiß.»
    Was sollte man da antworten? Reb war ein einfacher Mensch, und er brauchte einen Freund. Was ich auch sagte, wie ich ihn auch behandelte, er tat, als hätte ich ihn bereichert. Ich war sein Freund. Und er würde mein Freund bleiben, mochte da kommen, was wollte.
    Als ich nach Hause zurückkehrte, nahm ich den inneren Monolog wieder auf. «Siehst du, so einfach ist das - Freundschaft. Wie heißt doch das alte Sprichwort? Wenn du einen Freund willst, mußt du ein Freund sein.»
    Es war jedoch schwer zu sehen, in welcher Weise ich Reb ein Freund gewesen war - oder irgendeinem anderen. Ich konnte nur feststellen, daß ich mein eigener bester Freund - und mein eigener schlimmster Feind war.
    Ich stieß die Tür auf und sagte zu mir selbst: «Wenn du das weißt, alter Junge, weißt du eine ganze Menge.»
    Ich nahm meinen gewohnten Platz vor der Maschine ein. «Jetzt», sagte ich mir, «bist du wieder in deinem eigenen kleinen Königreich. Jetzt kannst du wieder Gott spielen.»
    Es kam mir denn doch seltsam vor, daß ich mich so anredete. Gott! Als hätte ich erst gestern aufgehört, mit ihm in enger Gemeinschaft zu leben, hörte ich mich mit ihm sprechen wie einst. «Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab ...» Und wie wenig hatten wir ihm zurückgegeben! Was können wir dir, Himmlischer Vater, anbieten für die Wohltaten, die du uns erwiesen hast? Mein Herz machte sich Luft, als wenn ich, das klägliche Nichts, das ich war, eine Ahnung von den Problemen hätte, mit denen der Schöpfer des Weltalls zu tun hatte. Ich schämte mich auch nicht, so intim mit meinem Schöpfer zu sein. War ich nicht ein Teil dieses ungeheuren Alls, das er hatte in Erscheinung treten lassen, vielleicht um sich die grenzenlose Ausdehnung seines Wesens zum Bewußtsein zu bringen?
    Es war lange, langer her, seitdem ich ihn auf diese vertraute Weise angeredet hatte. Welch

Weitere Kostenlose Bücher