Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Hand aus.«
    Seine Finger stießen gegen eine Seitenwand aus Holz, ertasteten eine schmale Öffnung. Kühle Luft wehte herein.
    »Ich bin hier draußen«, flüsterte das Mädchen. »Der Spalt ist zu schmal für dich. Du mußt dich an der Wand entlang bis zur Tür vortasten. Ich kann sie von außen entriegeln.«
    Er schob sich seitwärts ins Dunkel, in der Hoffnung, nicht über unsichtbare Gegenstände und Kisten zu stolpern. Es dauerte nicht lange, da erreichte er eine Ecke, und dann, kurz darauf, ein Tor. Der eine Flügel stand einen Spalt weit offen. Hagen fragte sich, weshalb Nimmermehr nicht einfach hereingekommen war. Doch der Gedanke verblaßte, als er ihre Hand an der seinen spürte. Hastig zog ihn das Mädchen ins Freie.
    »Schnell«, wisperte sie. »Hier vorne können sie dich sehen. Wir müssen schleunigst ein Versteck für dich finden.«
    »Können wir nicht einfach über die Brücke ans Ufer laufen?«
    »Sie wird bewacht. Die Leute hier fürchten, die Gaukler könnten versuchen, euch zu befreien. Sie haben rund ums Dorf Wachen aufgestellt. Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit, als sich in Zunderwald selbst zu verkriechen.«
    Eine Weile lang liefen sie stumm, dann streiften Zweige Hagens Gesicht. Nimmermehr hatte ihn in den Schutz einiger Bäume geführt.
    »Beschreib mir das Dorf«, bat er. »Ich muß mir ein Bild davon machen.«
    »Es ist nicht besonders groß, die Häuser sind fast alle aus Stein gebaut.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Warte, setz dich hin. Ja, genau da, hinter den gefällten Baumstamm. Im Augenblick bist du hier sicher.« Es knisterte, als sie sich neben ihm im Gras niederließ. »Also, die Häuser sind aus Stein, wohl wegen der Überschwemmungen. Einige sind bis zu drei Stockwerke hoch. Ganz oben bewahren die Leute bei Hochwasser ihre Sachen auf. Die Landzunge ist nicht besonders groß, und Zunderwald nimmt gerade mal die Hälfte davon ein. Aber die Gebäude sind eng aneinandergebaut, die Wege dazwischen verschachtelt und voller Steintreppen.« Sie nahm seine Hand und streichelte sie sanft mit ihren zarten Fingern. »Wir sind jetzt am Nordzipfel der Landzunge. Das Südende ist nicht bebaut, da wachsen nur ein paar einzelne Bäume. Dort unten war es, wo sie Runolds Zelt abbrannten.«
    »Was für Leute leben hier?« fragte Hagen. »Ich meine, Runold war überzeugt, daß sie ihm glauben würden. Wieso ist sein Betrug gerade hier aufgeflogen?«
    Nimmermehr lachte wie ein kleines Mädchen. »Ich fürchte, das war meine Schuld.«
    »Aber die junge Frau, die die anderen aufgestachelt hat, hatte eine andere Stimme«, wandte er argwöhnisch ein.
    »Das war die Tochter des Dorfvorstehers.« Nimmermehr schien kurz zu überlegen, dann sagte sie: »Ich konnte sie überzeugen, daß ihr keine echten Götter seid.«
    »Du hast Runolds Zauber aufgehoben?«
    »Zauber? Das nennst du Zauber?« Ungewohnte Verachtung sprach aus ihrer Stimme. »Liebe Güte, das war gar nichts. Runold war kein Magier, sonst wäre er jetzt nicht tot. Er hat die Gutgläubigkeit der Menschen ausgenutzt, ihre erbärmliche Torheit. Das war alles. Es gibt einen viel schlichteren Namen für diesen Zauber, wie du ihn nennst: Menschenkenntnis.«
    Hagen packte blitzschnell ihre Hand wie ein lästiges Insekt. Er wußte, daß er zu fest zudrückte, aber wieder konnte er nichts anders, als ihr zu mißtrauen.
    Hast du sie nicht eben noch herbeigesehnt? fragte es spöttisch in ihm. Sie hat dich schon wieder gerettet, und als Dank dafür tust du ihr weh.
    »Du hast in Kauf genommen, daß die Dorfbewohner uns alle umbringen«, sagte er vorwurfsvoll und viel zu laut.
    Sie legte sanft den Zeigefinger ihrer freien Hand an seine Lippen. »Leise, sonst hören sie uns.«
    Schuldbewußt verstummte er, ließ sogar ihre Hand los. Sie zog sie nicht zurück, sondern streichelte weiter über seine Finger.
    »Sie haben dich doch am Leben gelassen, nicht wahr?« sagte sie ruhig. »Und was Runold angeht, so hat er kaum etwas Besseres verdient. Wie sonst hätte ich dich denn aus seiner Gewalt befreien sollen? Er hat dich nicht aus den Augen gelassen, ich wäre nicht einmal an dich rangekommen. Hier im Dorf aber war das etwas anderes. Einen Scheunentor zu öffnen ist keine Kunst.«
    »Die Raben«, entfuhr es ihm plötzlich, »das hast du getan, oder?«
    »Nicht ich – der Mantel. Er hat die Macht dazu. Ich habe ihn von Morten gestohlen.«
    »Ist er auch hier?«
    Sie senkte ihre Stimme, als fürchtete sie, ihr Verfolger könne sie hören.

Weitere Kostenlose Bücher