Nibelungen 01 - Der Rabengott
des Abgrunds.
Da! Da war es wieder! Ein vages Schimmern.
Hände packten ihn grob an den Oberarmen.
»Nein!« schrie eine Mädchenstimme.
Zugleich traf etwas seine Stirn, hart und grausam, und die Helligkeit, gerade erst wiedergefunden, verblaßte zum zweiten Mal.
Das Erwachen war eigenartig. Eigenartig, weil Hagen es nicht von sich aus bemerkte. Es gab keinen Wechsel von einem Dunkel ins andere. Da war nur Schwärze, ohne Abgrenzungen, ohne Schattierungen. Jemand hatte ihm einst erklärt, Schwarz sei keine Farbe, und jetzt erkannte Hagen mit plötzlicher Gewißheit, welche tiefere Wahrheit sich hinter dieser Behauptung verbarg. Schwarz beinhaltete nichts als sich selbst, es war nur ein Zustand vollkommener Leere. Hagen hätte tagelang darüber nachgrübeln können, ohne zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Schwarz war einfach nur – schwarz.
Erst als eine Stimme sagte »Er ist wach«, da wußte er, daß sich etwas verändert hatte. Um zu hören, mußte er wach sein.
»Gut, laßt ihn liegen.« Schritte, dann das Schlagen einer Tür. Das Schaben eines Riegels. Geräusche, die Hagen kannte; Geräusche der Gefangenschaft.
Seine Hände waren vor seinem Körper gefesselt. Er lag auf einem Boden aus Holzbohlen und verstreutem Stroh. Wahrscheinlich eine Scheune, die jetzt als Gefängnis herhalten mußte. Es roch nach Heu und Pferdedung.
»He da!« rief er. »Ist da wer?«
Niemand antwortete. Er fragte sich, wo der Rest von Runolds Truppe steckte. Einige waren sicher durch einen Sprung ins Wasser entkommen, doch wo waren die übrigen? Und was war mit Runold selbst geschehen?
Hagen rieb sich mit gebundenen Händen die Augen, doch die Dunkelheit blieb unverändert. Offenbar war sein rechtes Auge noch nicht gesund genug, um irgend etwas wahrzunehmen, daß weniger hell als eine Feuersbrunst war. Zudem herrschte in der Scheune sicherlich Finsternis. Kein Grund also, seine neugewonnene Hoffnung fahrenzulassen.
Hoffnung? durchfuhr es ihn bitter. In dieser Lage? Vermutlich wollte man nur bis zum Morgengrauen warten, um ihn am höchsten Giebel Zunderwalds aufzuhängen, mit oder ohne Augenlicht.
Ein leises Schaben zu seiner Rechten ließ ihn aufhorchen. Kurz darauf wiederholte es sich. Es klang, als würde eine Holzlatte in der Wand zur Seite geschoben.
»Ist da jemand?« fragte er noch einmal.
Einen Moment der Stille, dann:
»Hagen!« Ein Flüstern nur, ganz leise. »Hagen von Tronje!«
Er spürte, wie sich vor Aufregung Hitze in ihm breitmachte. »Nimmermehr, bist du das?«
»Wer sonst, Dummkopf?«
So, wie die Dinge standen, hätte sie alles zu ihm sagen dürfen, und er hätte sie noch dafür umarmt.
Er wandte den Kopf nach rechts und versuchte, sich mit dem Rücken an der Wand auf die Beine zu schieben. Zu spät bemerkte er, daß man seine Stiefel mit einem unterarmlangen Strick aneinandergebunden hatte; scheppernd fiel er zurück auf den Boden.
»Wo bist du?« fragte er beschämt.
»Ganz nahe bei dir.«
»Kannst du die Fesseln an meinen Füßen durchschneiden?«
»Ohne Messer?«
Ungeduldiger sagte er: »Dann sei so gut, und mach den Knoten auf.«
»Deine Hände sind frei. Warum machst du es nicht selbst?«
Und, tatsächlich: Noch während sie sprach, spürte er, daß der Strick an seinen Händen locker genug saß, um ihn mühelos abzuschütteln.
»Wie hast du das gemacht?« fragte er verblüfft, während er sich an seinen Fußfesseln zu schaffen machte.
»Wahrscheinlich waren die Knoten nicht fest genug angezogen«, antwortete sie ausweichend.
Er blieb beharrlich. »Eben waren sie noch fest.«
»Du mußt dich beeilen. Die Dorfbewohner können jeden Moment kommen, um dich zu holen.«
Sein rechter Fuß war frei. Jetzt noch der linke. »Was werden sie dann mit mir tun?«
»Dir einige Fragen stellen.«
»Folter?«
»Du hättest Runold sehen sollen, als sie mit ihm fertig waren.«
Er bekam den Knoten an seinem linken Knöchel auf und taumelte auf die Füße. »Was ist mit Runold?«
»Er ist tot.«
»Und die anderen?«
»Alle geflohen. Runold war der erste, den die Dorfbewohner fingen, ihm blieb keine Zeit mehr, um zu entkommen. Du hast am Feuer gekauert, als sie dich fanden. Die übrigen sind alle noch rechtzeitig in den Fluß gesprungen.« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Einige werden wohl heil ans andere Ufer gekommen sein.«
Hagen griff mit den Armen nach rechts ins Leere. »Verdammt, Nimmermehr, wo bist du?«
»Geh einfach geradeaus. Ja, genau so. Langsam. Jetzt streck die
Weitere Kostenlose Bücher