Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
der Spielmann wieder erinnern, wo er war. Eine Höhle, tief im Herzen der Erde, die Insel … Wie Ausschnitte eines Gobelins tauchten Bilder der ve r gangenen Tage in seiner Erinnerung auf, doch gab es auch viele Lücken, so als seien Stücke aus dem Wandteppich herausg e schnitten.
»Ich habe hier einen Sud aus Löwenzahn, Klette und Holu n derbeeren bereitet. Dieser Trunk wird dein Blut säubern.« Sie half ihm, seinen Kopf ein wenig aufzurichten, und setzte ihm die Schale an die Lippen. »Es ist auch ein wenig Milch aus Mohnkapseln beigemischt. Du wirst gut davon schlafen und die Schmerzen vergessen.«
Volker trank gierig den Kräutersud. Er war bitter wie Galle, doch vertrieb er die Kälte. »Danke. Wer … Wer bist du?«
»Man nennt mich die wiedergeborene Göttin.« Die Fremde hatte die Schale zur Seite gestellt und musterte ihn eindringlich.
Ihr Blick war Volker unheimlich. Sie hatte kalte, grüne Augen, und er hatte das Gefühl, als würde sie durch ihn hindurchs e hen. Angeblich mochten die Feen Troubadoure und Spielleute. Er sollte versuchen, ihr Interesse zu gewinnen, sonst würde diese Göttin ihm womöglich, sobald er gesund war, den Kopf abschneiden, um ihn auf einen Pfahl zu stecken . Gwalchmai hatte Volker am Lagerfeuer mit seiner rauhen Kriegerstimme ein Lied vorgesungen, das von den Küsten des fernen Inber Colptha stammte. Vielleicht würde es der Fremden gefallen.
»Ich bin der Wind auf dem Meer … Ich bin eine Welle des Ozeans … Ich bin ein Tosen auf der See … Ich bin … « Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern.
Die Fee strich ihm sanft über die Stirn. »Bist du ein Barde?« Sie blickte ihn mitleidig an. »Schone deine Kräfte, schöner Fremder. Ich fürchte, ich werde dir Schmerzen bereiten … Du mußt dieses Kettenhemd ablegen, damit ich deine Wunde b e handeln kann.« Sie löste das Wehrgehänge von seinen Hüften und schob den Kettenpanzer vorsichtig höher.
»Nimm jetzt deine Arme hoch, sonst kann ich das Kette n hemd nicht über deinen Kopf ziehen.«
Volker fügte sich ihren Worten, doch sobald er versuchte, den linken Arm anzuheben, wurde der Schmerz in der Brust une r träglich. Die Fremde schien plötzlich ungeduldig. »Ich kann nicht mehr lange bleiben!« Sie packte seinen Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt zurück. Der Spielmann schrie vor Schmerz. Unbarmherzig zog sie nun das Kettenhemd hoch. Die eisernen Ringe rutschten über den abgebrochenen Pfeilschaft. Grelle Lichter tanzten Volker vor den Augen. Er hatte das Gefühl zu stürzen …
Als er erwachte, war er allein. In der Felsnische stand noch immer die kleine Öllampe. Die Fee hatte ihm einen Umhang aus grauer Wolle zurückgelassen. Ihm war so heiß, als läge er auf einem Lager aus glühenden Steinen.
Dicht neben ihm standen eine Schale mit einem Stück Brot und ein Becher. Er war zu schwach, um zu essen. Wie ein zwe i tes Herz pochte seine Wunde in der Brust. Es roch nach Ve r wesung in der Höhle. Direkt ihm gegenüber konnte er eine längliche Höhlung erkennen, in der ein Skelett lag. Volker keuchte, als er begriff … Er war nicht in irgendeiner Höhle. Er lag in einem Grab!
Zufrieden blickte Golo auf die Reste des Mahls. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er einen ganzen Salm für sich allein g e habt. Es war ein harter Kampf gewesen, den großen Fisch ohne fremde Hilfe zu verschlingen. Zwischendurch hatte er den Schwertgurt lösen müssen und die Waffe neben sich an den Tisch gelehnt. Jetzt war ihm sogar die Verschnürung seines L e derwamses zu eng.
Erschöpft brach er ein Stück von dem frischen Brot ab, das zu seinem Festmahl serviert worden war, und tunkte es in die he l le Soße, die noch immer in kleinen Pfützen auf dem großen hölzernen Tablett stand, auf dem der Wirt den Salm serviert hatte. Es wäre eine Schande, etwas verkommen zu lassen. Der Sud war mit weißem Wein vermengt worden, und die K ü chenmagd hatte noch Möhren und Zwiebeln hineingegeben. Es waren jedoch die Kräuter, die diese Soße zu einer Königin unter ihresgleichen machten. Sie war fein abgeschmeckt mit Thym i an, Kerbel und Dill.
Ganz langsam kaute Golo auf der Kruste des dunklen Brotes, um das Aroma der Soße bis zur Neige genießen zu können. Dann füllte er seinen Becher mit frischem Landwein nach, der in einem großen Krug auf dem Tisch stand. In Volkers Diensten war ihm nie ein solches Festmahl aufgetragen worden. Es war die erste in einer langen Reihe von königlichen Schlemmero r gien, die er sich auf
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