Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
springen.
Volker schlug sich den Umhang vors Gesicht. Dichter Qualm trieb durch die engen Straßen. Seit der Niederlage in den Sümpfen trug er wieder normale Kleidung und scherte sich einen Teufel um den Brauch des Nachtvolks, nackt in die Schlacht zu ziehen.
Zwischen dem treibenden Rauch sah er ein kleines Mädchen. Sie hielt etwas eng gegen die Brust gepreßt und schien die Or i entierung verloren zu haben. Ein pfeifendes Geräusch übertö n te das Fauchen der Flammen. Am Himmel war ein glühender Punkt zu sehen.
»Lauf in ein Haus! Schnell!« Volker duckte sich in einen Tü r eingang. Das Mädchen schien ihn nicht gehört zu haben. B e nommen taumelte es durch den Rauch. Keine drei Schritt hinter ihr schlug eines der teuflischen Geschosse auf den Boden und zerschellte. Flüssiges Feuer sprühte über den Weg aus festgetr e tenem Lehm. Flammen leckten an den Hauswänden empor. Ein gellender Schrei erklang. Volker sprang aus seiner Deckung. Das Mädchen kam ihm entgegengerannt, das Gesicht von Schmerz und Schrecken verzerrt. Etwas von dem flüssigen Fe u er war auf ihren Rücken gespritzt. Jetzt erkannte Volker, was sie so fest gegen ihre Brust drückte. Es war eine kleine Puppe aus Stroh.
Der Spielmann riß sich den Umhang von den Schultern. »Du mußt dich auf den Boden werfen!« Das Mädchen hörte ihn nicht. Es lief auf ihn zu und umklammerte schreiend seine Be i ne. Verzweifelt versuchte Volker, mit seinem Umhang die Flammen auf ihrem Rücken zu ersticken. Bald war das Feuer verloschen; und er riß ihr die schwelenden Reste ihres Klei d chens vom Leib und nahm sie in die Arme. Die Kleine hatte aufgehört zu schreien. Sanft strich Volker ihr über das versen g te Haar. »Es wird alles wieder gut, meine Prinzessin. Ich bringe dich zu den Priesterinnen. Die werden deine Schmerzen we g zaubern und nach deinen Eltern suchen.«
Er blickte dem Mädchen ins Gesicht. Ihre Wangen waren ru ß verschmiert. Ihre großen, braunen Augen waren starr vor En t setzen. Der Spielmann wischte ihr die Tränen von den Wangen. Er konnte spüren, wie das Blut aus den Wunden auf ihrem R ü cken seinen Umhang durchtränkte. »Ich werde dich ganz vo r sichtig halten. Wenn ich dir weh tue, dann sagst du es mir, ja … «
Eine Hand griff von hinten nach Volkers Schulter. »Sie kann dich nicht mehr hören, Sänger.« Erschrocken drehte sich der Spielmann um. Neman stand hinter ihm. »Was weißt du schon?« grollte er. »Du kannst zaubern! Hilf ihr, so wie du mir in der Höhle geholfen hast.«
Sie blickte ihn mitleidig an. Dann nickte sie. »Leg das Kind auf den Boden.«
Volker gehorchte. Die Arme des Mädchens hingen schlaff herab. Er griff nach ihren zierlichen Händen und rieb sie mit seinen groben Fingern. »Die wiedergeborene Göttin ist g e kommen, um dir zu helfen«, flüsterte er. Sein Umhang war ve r rutscht, so daß er ihren zarten Körper sehen konnte. Ihre Haut war makellos weiß. Nirgends war auch nur die kleinste Bran d blase zu sehen.
Neman kniete neben der Kleinen nieder. Vorsichtig strich sie ihr über das versengte Haar. Dann drehte sie das Kind behu t sam auf die Seite. Der ganze Rücken des Mädchens war eine einzige Wunde. Hautfetzen klebten an dem blutdurchtränkten Umhang. »Glaubst du mir jetzt, daß sie tot ist? Keine Macht dieser Welt kann sie mehr zum Leben erwecken.«
Volker schluckte. Es war, als säße ihm ein faustgroßer Kloß in der Kehle.
Neman streckte ihm ihre Hand entgegen. »Komm mit mir! Du hast alles getan, was in deiner Macht stand. Ich weiß, daß du in den letzten drei Tagen fast nicht mehr geschlafen hast. Du mußt jetzt ruhen. Die Normannen werden heute nicht mehr angre i fen. Wenn sie die Stadt erobern wollen, werden sie warten, bis die Flammen verloschen sind.«
»Es ist alles verloren.«
Die junge Frau schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Macha weiß, wie wir siegen werden. Sie hat mir verraten, daß sie einen Plan hat. Sie sagt, daß man die, die das Feuer bringen, nur durch das Wasser besiegen kann.«
Volker nickte müde. Er hatte nicht mehr die Kraft zu wide r sprechen. Was nutzte es auch? Er hatte in den Sümpfen ges e hen, was von Machas Plänen zu halten war. Die Rabengöttin wußte nicht, wann eine Schlacht verloren war. Sie würde die ganze Stadt opfern …
Er griff nach der Hand der Totenklägerin. Neman führte ihn durch die rauchverhangenen Straßen zur Königsburg hinauf. Hunderte Menschen drängten sich auf dem Innenhof der Fe s tung, dennoch war es unheimlich
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