Nibelungen 05 - Das Runenschwert
verrechnet hatte. Die schwarze Bestie durchkreuzte seine Pläne. Im besten Fall hielt sie ihn nur auf, im schlimmsten verhinderte sie seine Rückkehr – für immer.
Sie war jetzt nah genug, daß er ihre Umrisse deutlich erkennen konnte. Eine kräftige Gestalt, so groß wie ein Krieger, doch ging sie auf vier Beinen. Kleine, spitze Ohren saßen an einem breiten, gestreckten Kopf – und das eine schrägstehende Auge. Es saß an der linken Seite, wuchs zur langestreckten Schnauze hin. Rechts aber, wo ein zweites Auge hätte sein müssen, hing nur narbiges Gewebe unter dem dunklen Pelz. Niemals zuvor hatte Siegfried einen Wolf gesehen, der so schwarz war. Ein Wolf war es, ohne Zweifel, wenn auch größer und dunkler als alle anderen. Und einäugig.
Ein alter Einzelgänger? Oder ein kräftiger Leitwolf?
Siegfried vermochte es nicht zu sagen. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keine weiteren Tiere hinter dem Schwarzen erspähen. Aber er mochte darüber keine Beruhigung empfinden.
Und hinter Siegfried? Lauerten dort schon weitere Tiere, bereit, ihm in den Rücken zu fallen?
Er wagte nicht, sich umzudrehen, wollte dem Schwarzen durch seine Unaufmerksamkeit keine Blöße geben. Statt dessen versuchte er sich einzureden, daß der Einäugige allein war und daß Graufell ein warnendes Gewieher ausgestoßen hätte, hätten sich Wölfe auf dem Burghof gezeigt.
Oder hatten sie den Hengst schon gerissen, so schnell und lautlos, wie auch der Schwarze aufgetaucht war?
Der Wolf ließ keinen Laut hören, kein Heulen, kein Knurren, kein Bellen. Geräuschlos wie ein Schatten glitt er auf Siegfried zu.
Ja, weiche zurück, Siegfried von Xanten! Meide den Kinderbaum, fliehe die Wolfsburg! Laß das Runenschwert unberührt!
Siegfried hörte die Stimme, ohne daß jemand sprach. Sie war plötzlich in seinem Kopf. Jetzt erst bemerkte er, daß er langsam zurückging, Schritt um Schritt, zurück zum Burghof, vom Kinderbaum fortgetrieben durch den einäugigen Schwarzen.
Die Stimme mußte eine Ausgeburt seiner Furcht sein. Aber er wollte sich nicht fürchten, wollte tapfer sein, wie es sich für einen Königssohn und einen zukünftigen Ritter ziemte. Also blieb er stehen, stemmte breitbeinig die Füße auf den Boden und legte die schweißnasse Hand um den Dolchgriff.
Fliehe die Wolfsburg, Siegfried von Xanten! Fürchte den Fluch der Götter!
»Nein!« stieß er laut hervor, um sich selbst Mut zu machen und die lautlose Stimme, die er seiner Angst zuschrieb, zu vertreiben. »Ich werde nicht fliehen. Ich will das Erbe meines Vaters, das Runenschwert!«
Er zog den Dolch und wünschte gleichzeitig, einen Speer mitgenommen zu haben. Es war leichtsinnig gewesen, nur mit dem Dolch bewaffnet zur Wolfsburg zu reiten. Handelte so ein Krieger?
Der Wolf blieb stehen, spannte seine Sehnen und Muskeln an. Sein gewaltiger, kräftiger Leib straffte sich. Die Spitzen der Ohren krümmten sich nach vorn. Die Schnauze zog sich zusammen und gab lange Zähne frei, scharf wie Reinholds beste Schwerter.
Siegfried hatte schon Wölfe gejagt und gegen sie gekämpft; er war vorbereitet, als der Schwarze sprang. Blitzschnell warf er sich nach vorn, unter den großen Tierleib hinweg. Geschickt rollte er sich über die linke Schulter ab, sprang wieder auf die Füße und wirbelte herum.
Doch der Wolf war schneller gewesen und setzte schon zum nächsten Sprung an. Wie ein von der Sehne gelassener Pfeil schnellte er durch die Luft.
Siegfried wollte zur Seite wegtauchen, doch diesmal war er nicht flink genug. Der Schwarze erwischte seine rechte Schulter und riß ihn zu Boden. Es war, als hätte Siegfried eine Kriegskeule getroffen. Vor seinen Augen drohte sich alles auslöschende Schwärze auszubreiten.
»Nein!« schrie Siegfried und zwang seine Sinne, ihm zu gehorchen. Die seltsame Stimme erklang wieder:
Lauf fort, Siegfried von Xanten! Verlaß diesen Ort und kehr niemals zurück!
Er wollte kein Feigling sein, keine Angst haben, nicht auf diese Stimme hören. Er wollte ein Mann sein, stark und tapfer, würdig des Stolzes seines Vaters, wäre dieser noch am Leben. Und er wollte das Runenschwert.
Als das große Glutauge dicht vor ihm leuchtete und der Wolf erneut das Maul aufriß, daß sein heißer Atem Siegfried umfing, stieß der Xantener zu. Er bohrte die Dolchklinge tief in die Flanke des Untiers.
Der verletzte Riesenleib zuckte, warmes Blut lief über Siegfrieds Hand und Arm, und endlich ließ der Schwarze seine Stimme hören. Er heulte auf, und sein
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