Nibelungen 05 - Das Runenschwert
Geifer tropfte brennend auf Siegfrieds Gesicht.
Siegfried handelte augenblicklich, als der Druck auf ihm etwas nachließ. Er zog die Beine an und rollte sich unter dem Wolf weg.
Das Untier reagierte schneller, als er gedacht hatte, und duckte sich zu einem neuen Sprung. Dabei entglitt der Dolchgriff Siegfrieds schweißnasser Hand.
Der Stahl steckte in der linken Seite des Schwarzen, und der Xantener war waffenlos!
Mit bloßen Händen wehrte er den nächsten Angriff ab. Er umklammerte Hals und Nacken des Schwarzen, der ihn erneut zu Boden warf.
Siegfried drückte mit aller Kraft zu, um der Bestie die Luft abzupressen, bevor ihre scharfen Fänge sein Gesicht und seinen Hals zerfetzten. Doch das Untier war stark und widerstand allen Bemühungen. Fingerbreit um Fingerbreit näherten sich die tödlichen Zähne, während Siegfrieds Muskeln mehr und mehr schmerzten. Nur mit äußerster Kraftanstrengung hielt er noch stand.
Ein kalter Windstoß wehte den heißen Wolfsatem hinweg. Das angestrengte, bedrohliche Knurren des Schwarzen verwandelte sich in ein wütendes Geheul, als er plötzlich von dem Menschen abließ und mit etwas rang, das ihn unversehens angefallen hatte.
Ein Helfer – hier?
Ächzend kam Siegfried auf die Knie und zog sich an einer bröckelnden Mauer auf die Füße. Sämtliche Glieder zitterten, Schultern und Arme schmerzten stärker als nach einem ganzen Tag am Amboß.
Der Schwarze und Siegfrieds so unerwartet aufgetauchter Helfer kämpften verbissen miteinander. Wütendes Knurren und heiseres Gekreische. Pelz und Federn flogen durch den dunklen Gang.
Federn?
Siegfrieds Retter war ein Vogel, ein großes Tier, fast so groß wie ein Mensch!
Das Gefieder war rötlich, nicht grauschwarz und weiß. Und trotz der seltsamen Farbe und der ungewöhnlichen Größe war es unzweifelhaft ein Falke. Wo auch immer der Falke herkam – er machte dem Wolf gehörig zu schaffen. Immer wieder rissen der gebogene Schnabel und die scharfen Krallen große Stücke aus dem struppigen Pelz. Doch der Einäugige wehrte sich, schlug die Fänge in den Falken, und zahlreiche Federn stoben auf.
Hilf mir, Siegfried! Nur gemeinsam können wir die schwarze Bestie besiegen!
Wieder eine lautlose Stimme. Aber eine andere, nicht düster und drohend. Voller Wärme, Zutrauen – und Angst.
Die Stimme des Falken!
Jetzt wußte Siegfried, daß vorhin nicht seine Furcht zu ihm gesprochen hatte, sondern der Wolf, das Untier.
Ja, der böse Wächter. Greif ein, Siegfried, töte ihn, und der Weg zum Runenschwert ist frei!
Siegfried warf sich nach vorn und griff nach dem Dolchknauf, dessen Silberbeschlag in der Finsternis funkelte. Er bekam ihn zu fassen, zog die blutige Klinge heraus und stieß sofort wieder zu, von unten in den Wolfshals.
Die Bestie jaulte und wand sich vor Schmerz. Der Falke verkrallte sich in dem bebenden Leib und hackte mit dem Schnabel nach dem Glutauge. Er traf mitten hinein, und das Auge floß aus. Das Untier war blind.
Siegfried nutzte diese Schwäche zum entscheidenden Stoß ins Herz des Wolfes. Er war wie im Rausch, besessen davon, die Bestie endgültig zu erledigen. Er hörte erst auf, mit dem Messer zuzustechen, als der Wolf sich schon längst nicht mehr bewegte.
Ein kalter Windstoß brachte ihn zur Besinnung. Es war der Falke, der von seinem Opfer abgelassen hatte und durch den finsteren Gang flog, zur Eichenhalle.
Komm, Siegfried, hol dir dein Erbe! Das Runenschwert!
Mit wackligen Beinen folgte Siegfried dem Vogel, der hinaus in die große Halle flog, um die mächtige Eiche herum, höher und höher stieg, bis ihn das breite Astwerk verdeckte.
»Bleib!« rief Siegfried. »Wer bist du?«
Er erhielt keine Antwort. Der Flügelschlag verklang, und es war, als hätte es den seltsamen Falken nie gegeben.
Etwas anderes beanspruchte Siegfrieds Aufmerksamkeit: das Runenschwert, das im Stamm des Kinderbaums steckte, so wie Reinhold es gesagt hatte.
Siegfried trat vor den Baum und streckte ganz langsam die Hände aus, berührte den vergoldeten Schwertgriff mit zitternden Fingern und umfaßte schließlich den Knauf.
Ein Gefühl der Wärme glitt durch seine Hände und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Seine Muskeln schmerzten nicht länger, jede Schwäche war verflogen. Er betrachtete die in die Klinge eingravierten, mit Gold ausgelegten Runen. Ihre magische Kraft mußte ihm diese Stärke verleihen.
Mit einem Blick hinauf zur Baumkrone sagte er: »Danke, Vater. Ich werde mich deines Erbes würdig
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