Nibelungen 05 - Das Runenschwert
er den dicken Eichenholzschaft. Die Stahlspitze glänzte silbrigblau im Sonnenlicht, als Siegfried auf die Lichtung galoppierte.
Amke stand noch eng an die Buche gepreßt, starr wie ein Fels. Entweder hatte sie erkannt, daß jede Bewegung den Bären noch mehr reizen würde, oder die Angst hielt sie im lähmenden Griff. Nur noch fünf Schritte, und der Bär hatte sie erreicht.
»Holla, Meister Petz, dreh dich um!« schrie Siegfried aus voller Kehle. »Die Maid kann dir nicht gefährlich werden, mein Spieß aber schon.«
Ungelenk wandte der wütende Bär sich um und richtete seine Aufmerksamkeit nicht länger auf Amke, sondern auf den schnell heranpreschenden Reiter.
Die Friesin hatte Siegfried mittlerweile erspäht. »Siegfried, nein!« brach es aus ihr hervor. »Greif nicht an! Der Bär wird dich töten!«
Ihr Ruf kam zu spät, schon war Siegfried herangestürmt. Auch der Bär bewegte sich jetzt viel schneller, als es seine gewaltige Leibesmasse und sein behäbig-tapsiges Auftreten vermuten ließen. Er spannte die Muskeln unter dem dunkelbraunen Fell, um dem Reiter in die Flanke zu fallen.
Siegfried riß Graufell im letzten Augenblick zurück und entging dem Schlag der krallenbewehrten Pranke. Aber sein Gegenangriff fiel kläglich aus. Der Xantener schaffte es nicht, die Stahlspitze ins Fell des Bären zu bohren. Es langte nur zu einem kräftigen Hieb mit dem Spieß, mitten auf die große schwarze Bärennase. Zu Siegfrieds Überraschung jedoch stieß der Bär einen lauten Schrei aus und vollführte eilends zwei, drei lange Sätze von der Buche weg.
»Der Schlag mit dem Spieß scheint dir nicht gefallen zu haben, Meister Petz!« rief Siegfried. Vielleicht ließ sich der Bär vertreiben, ohne daß Siegfried sein Blut vergoß. Denn war das Tier erst verwundet, konnte es leicht vom Schmerz rasend werden und ohne Rücksicht auf Verluste angreifen.
»Ho, Graufell!« Siegfried schlug die Fersen in die Flanken des Pferdes. »Besorgen wir es dem Brummbären, bevor er merkt, daß eine schmerzende Nase nicht so schlimm ist, wie sie sich anfühlt!«
Als das große Tier Siegfried anreiten sah, richtete es sich halb auf und fuchtelte mit einer Pranke in der Luft herum, wie um den Reiter von sich fernzuhalten. Aber Siegfried mußte mit seinem Spieß gar nicht so nah herankommen. Wieder schlug er zu.
Der Bär sprang erneut erschrocken zurück. Sein Vorderleib pendelte hin und her. Das Tier schien abzuschätzen, ob sich der Kampf lohnte. Erst war nur Amke dagewesen, dann plötzlich Siegfried. Konnten noch weitere Feinde im Dickicht lauern?
Siegfried gönnte dem Bären keine Pause. Unter lautem Geschrei führte er den nächsten Angriff, den Spieß zum neuen Schlag erhoben. Doch der Bär hatte offensichtlich genug. Er wandte sich um, hetzte in schnellen Sätzen über die Lichtung und brach geräuschvoll in das Dickicht.
Als das Tier nicht mehr zu sehen war, ritt Siegfried zur Buche, sprang aus dem Sattel und rammte den Spieß mit der Spitze in den Erdboden. Ehe er noch etwas sagen konnte, lag Amke in seinen Armen und nahm dann sein Gesicht in ihre Hände, um ihn erst auf die Wangen und dann auf den Mund zu küssen.
Eine nie gekannte Wärme erfüllte Siegfried. Die sanfte Berührung ihrer weichen, warmen Lippen ließ ihn die eben noch tödliche Gefahr vergessen. Und sogar die Schlangenhöhle und das Runenschwert waren nicht wichtig in diesen schönen, viel zu kurzen Augenblicken, in denen nichts zwischen dem Xantener und der Friesin zu stehen schien. Kein ruhmloser Feldzug, kein vergossenes Blut, kein Wort und kein Gedanke.
Doch viel zu bald löste sich Amke von ihrem Retter, trat zwei Schritte zurück und dankte ihm mit einfachen, von Herzen kommenden Worten.
»Mir ist nur ein wenig schwindlig«, erklärte Amke mit einem fast entschuldigenden Lächeln.
Das Blut auf ihrer Stirn und der linken Wange stammte zum Glück nur von leichten Schürfwunden. Siegfried reinigte die Wunden mit Wasser aus seinem ledernen Schlauch. Amke hielt still und stieß nicht den kleinsten Schmerzenslaut aus. Siegfried bewunderte ihre Tapferkeit. Sorgfältig verschloß er den Wasserschlauch. »Die Sache ist noch einmal glimpflich ausgegangen. Zum Glück war ich in der Nähe.« Daß er Amke von der Eiche aus beobachtet hatte, verschwieg er lieber. »Du solltest nicht allein durch den Wald reiten, Amke!«
»Ich war nicht allein. Ich habe alles versucht, dich nicht aus den Augen zu verlieren. Auch wenn du eher um das Gegenteil bemüht
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