Nibelungen 05 - Das Runenschwert
waren dem Ziel nahe, und Siegfried beschleunigte seine Schritte. Er vergaß vor Aufregung sogar seine Vorsicht und tastete den Höhlenboden nicht länger mit dem Spieß ab.
»So warte doch!« rief Amke hinter ihm. »Siegfried, was hast du denn?«
»Da vorn muß es sein!« antwortete er über die Schulter.
»Was?«
Ohne zu antworten, bog er um eine Reihe grober Felsnadeln – und blieb stehen, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihm darbot.
Vor ihm erstreckte sich ein unterirdischer Teich, fast schon ein See, aus dessen Mitte eine große Felsnadel ragte. Viele Verästelungen erhoben sich über das grünblau schimmernde Wasser. Das alles sah Siegfried überdeutlich, weil durch einen fast mannsbreiten Schacht das Sonnenlicht einfiel. Zu eng, um hindurchzuklettern, aber breit genug, den Felsen im See zu beleuchten.
Siegfried wunderte sich, daß Reinhold nichts von dem Gewässer erzählt hatte. Der Boden vor Siegfried mußte abschüssig sein und hatte sich aus einem unbekannten Grund in den vergangenen Jahren mit Wasser gefüllt.
Und das Runenschwert?
Siegfried schritt an den Rand des Gewässers und suchte den zerklüfteten Felsen sorgsam mit den Augen ab. Da, in einer Spalte, blinkte etwas im Sonnenlicht. Er strengte seine Augen an und erkannte blitzenden Stahl.
»Da ist es!« stieß er hervor.
»Meinst du das Leuchten in dem Felsen?« fragte Amke, die neben ihn getreten war. »Sieht aus wie ein Dolch.«
»Eine Schwertspitze!«
»Seltsam«, meinte die Friesin. »Wie kommt die hierher?« Als sie seinen düsteren Blick bemerkte, seufzte sie: »Was willst du jetzt unternehmen?«
»Ich werde mir den Stahl holen! Deshalb sind wir hier.«
Seines Wamses und der Stiefel ledig, schwamm Siegfried mit kräftigen Zügen durch das überraschend warme Wasser. Fast wie in einer Badestube. Es lag wohl an der Sonne, die den See den ganzen Tag lang beschien. Siegfried hatte seine Ausrüstung bei Amke zurückgelassen, bis auf den Dolch an seiner Seite und den ausgeleerten Ledersack auf seinem Rücken, in dem er seine Beute verstauen wollte.
Er wähnte sich schon im Besitz der zweiten Schwerthälfte und achtete auf nichts anderes, sah nur das verlockende Blitzen in fast greifbarer Nähe. Schneller und schneller wurden die Schwimmbewegungen seiner Arme und Beine, um endlich des kostbaren Stahls habhaft zu werden.
Bis er etwas hörte. Ein Geräusch übertönte das Plätschern des Wassers.
Ein schriller, langgezogener Schrei.
So schnell er konnte, drehte er sich im Wasser und sah Amke am Ufer stehen. Sie wedelte mit den Armen und rief nach ihm. Doch verstand er den Grund nicht. Er sah kein anderes Wesen in der Höhle, konnte keine Bedrohung ausmachen. Plötzlich deutete Amke auf das Wasser. Siegfried wandte den Kopf und erstarrte. Etwas war aus dem Wasser aufgetaucht. Nein, es tauchte immer noch auf und wuchs mit jedem Augenblick. Eine Schlange richtete sich dort auf, größer noch als die Königsotter!
Die Wasserschlange war nicht gemustert, sondern tiefschwarz. Der einzige Farbtupfer war das stechend rote Auge an der linken Kopfseite. Sie hatte nur dieses eine Auge. An der Stelle des anderen war eine große, häßliche Narbe zu sehen.
Unwillkürlich dachte Siegfried an den einäugigen Wolf, gegen den er in der alten Königsburg gekämpft hatte. Da hörte er auch schon die unheimliche lautlose Stimme:
Versuche die Götter nicht, Siegfried von Xanten! Fürchte den Fluch des Runenschwertes! Kehre um und verlaß diesen Ort!
Siegfried warf einen besorgten Blick über die Schulter. Er würde es nicht bis zur Felsinsel schaffen. Die riesige Wasserschlange war schneller als er und glitt mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen über das Wasser wie über festen Boden.
Schwimm zurück, Siegfried! Höre auf das Wort der Götter!
Er drehte sich im Wasser um. Doch er verdrängte die Stimme, die ihn verwirren wollte, zog seinen Dolch und bereitete sich auf den Kampf mit der schwarzen Schlange vor.
Als nur noch zwei Armlängen Mensch und Untier trennten, erhob die Schlange ihren Vorderleib. Siegfried wartete den Vorstoß des Ungeheuers nicht ab, sondern tauchte, schwamm unter Wasser auf die Schlange zu und stieß die Klinge tief zwischen ihre dunklen Schuppen. Mit beiden Händen hielt er den Dolchgriff fest, als die Schlange sich vor Schmerzen wand. Blut trat in großer Menge aus und bildete eine dunkle Wolke, die sich im Wasser ausbreitete.
Siegfried zerrte an dem Messer, um es der Schlange aus den Leib zu reißen. Die Bestie versuchte
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