Nibelungen 05 - Das Runenschwert
berührte, spürte er das seltsame, warme Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Es schien durch seinen ganzen Leib zu fließen, als er endlich die Spitze des Runenschwertes in den Händen hielt. Jegliche Schwäche verließ ihn. Er fühlte sich frisch und kräftig, so, als könne er es augenblicklich mit einer weiteren Wasserschlange aufnehmen.
Vorsichtig, damit er sich nicht an dem scharfen Stahl verletzte, zog er ihn aus der Felsspalte und hielt die Klinge in den Händen.
Wie prachtvoll sie war!
Siegfried stellte sich vor, wie König Siegmund mit dem Runenschwert Sieg um Sieg erkämpft und zahllosen Gegnern Blut und Leben genommen hatte. Er sehnte sich danach, es ihm gleichzutun. Am liebsten hätte er das Runenschwert sofort gegen einen Feind geführt.
Erst nach einer ganzen Weile bemerkte er, daß Amke ihn rief. Ärgerlich wandte er den Blick von seiner Beute.
»Ich dachte schon, du wärst im Stehen eingeschlafen!« rief Amke über das Wasser. »Willst du in der Höhle bleiben, bis es Nacht wird?«
Sie hatte recht. Die Kraft der durch den Schacht einfallenden Sonnenstrahlen ließ nach. Mißmutig verstaute Siegfried den Stahl in seinem Ledersack, den er wieder sorgfältig auf seinen Rücken band.
Als er in den See stieg, blickte er sich forschend um. Jetzt schien ihm ein zweites Ungeheuer gar nicht mehr so verlockend. Zum Glück war alles ruhig. Auf dem kürzesten Weg schwamm er zurück und erreichte unbehelligt das Ufer.
»Hat es sich gelohnt?« fragte Amke, während sie besorgt auf seinen zerschundenen Leib blickte.
»Gewiß.« Er klopfte auf den Ledersack. »Ich habe, was ich wollte.«
»Zum Glück, es war gefährlich genug.«
Siegfried lächelte. »Um das Schwert zu bekommen, hätte ich auch einen Drachen erschlagen.«
»Es gibt keine Drachen«, belehrte ihn Amke. »Außer in den Märchen.«
»Früher soll es welche gegeben haben.« Siegfried sah auf den Ledersack mit seiner Beute und stellte sich vor, wie es sein würde, das Runenschwert im Kampf zu führen – unbesiegbar zu sein. »Falls es noch einen Drachen gibt, werde ich ihn aufspüren und töten!«
»Ja, gewiß«, erwiderte Amke; es klang eher belustigt als überzeugt. »Darf ich das so wertvolle Stück einmal aus der Nähe sehen?«
»Nein!« antwortete er schroff und preßte den Sack an seinen Leib. Er las in Amkes Gesicht Enttäuschung über sein Mißtrauen. Es schmerzte ihn, aber dann gewann der Gedanke an sein Geheimnis die Oberhand. Er durfte es mit niemandem teilen, jedenfalls jetzt noch nicht. Erst, wenn er beide Schwerthälften zusammengeschmiedet hatte.
Wenn er, Siegfried von Xanten, der Herr des Runenschwertes war!
Kapitel 7
a ist er ja!« stieß Siegfried überrascht hervor, als er sich durch das enge Loch zwängte und, geblendet vom Tageslicht, mit zusammengekniffenen Augen ins Freie trat. Unbeschadet hatten sie den beschwerlichen Rückweg durch die Schlangenhöhle hinter sich gebracht, ohne daß sich auch nur eine Schlange gezeigt hätte. »Wer?« fragte Amke, die ihm folgte. Siegfried deutete auf den Hengst, der zwischen den Heidelbeersträuchern stand und von den kleinen Früchten naschte. »Ich dachte, du hättest ihn zurückgeschickt.«
»Nicht zurückgeschickt, nur losgebunden.«
Achtlos ließ Siegfried seine Fackel auf einen Felsen fallen und lief auf die Lichtung, zu seinem Pferd, das sich über seine Liebkosungen freute. Die Zügel waren um einen Heidelbeerstrauch geschlungen. »Du mußt dich irren, Amke. Graufell ist fest angebunden!«
Die Friesin lief zu ihm. Sie mußte zugeben, daß Siegfried recht hatte. »Aber ich weiß genau, daß ich seine Zügel von dem Strauch gelöst habe. Ich habe doch überlegt, ob ich zurück ins Lager reiten soll.«
»Vielleicht warst du so aufgeregt, daß du nur gedacht hast, du hättest Graufell losgemacht«, mutmaßte Siegfried.
Amke war fast geneigt, ihm recht zu geben, da schnippte sie plötzlich mit den Fingern. »Ich habe mich nicht getäuscht! Ein anderer muß Graufell festgemacht haben. Denn dies war nicht der Strauch, an den du ihn gebunden hast, Siegfried. Dieser hier ist viel höher!«
Er mußte zugeben, daß sie die Wahrheit sprach. Aber wer hatte das Pferd wieder angebunden?
Der Graue Geist? Aus welchem Grund?
Der Falke? Wohl kaum. Er mochte ein ebenso kluges wie starkes Tier sein, aber zum Anbinden eines Pferdes ebensowenig in der Lage wie Graufell selbst. Oder war der Falke gar kein Tier? War es kein Zufall, daß er und der Graue Geist hier und an der Wolfsburg
Weitere Kostenlose Bücher