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Nibelungengold 02 - Das Drachenlied

Titel: Nibelungengold 02 - Das Drachenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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angenommen, daß er im Schloß seiner Ahnen gefangengehalten wurde – aus gutem Grund, denn Graf Ugo war in höchstem Maße schwachsinnig. Seine Eltern waren Bruder und Schwester gewesen, genauso wie deren Eltern und Großeltern.
    Das Rätsel, das Mütterchen am meisten beschäftigte, war jedoch der Drachenkopf auf den Harnischen der Krieger. Hatte das Symbol mit dem Ziel ihrer Reise zu tun, oder war die Übereinstimmung nur ein Zufall? Drachen waren verbreitete Wappentiere. Es mußte nicht unbedingt etwas bedeuten.
    Die Männer führten ihre Gefangenen in weitem Bogen an der Mauer entlang, weit genug von den Seilwinden entfernt, daß Mütterchen und Löwenzahn der Blick in die Schächte verwehrt blieb. Feuerschein spiegelte sich auf nackter, verschwitzter Haut. Keiner der Sklaven blickte zu den Neuankömmlingen auf. Wahrscheinlich wurden ständig neue Gefangene in die Festung gebracht, der Anblick war nicht ungewöhnlich.
    Ihr Weg endete an einem Gittertor, das direkt in den Festungswall führte. Die Mauer war breit genug, um Kammern und Kerker zu beherbergen. Mütterchen und Löwenzahn wurden in ein finsteres Verlies gestoßen, dann schlug das Gitter hinter ihnen zu.
    Der Schein der Flammen reichte nur drei Schritt weit, dahinter lag ihr Gefängnis im Dunkeln. Mütterchen vernahm leises Rascheln in der Finsternis. Sie waren nicht allein.
    Ein Gesicht schob sich ins gelbrote Halblicht. Ein Mädchen mit verhärmten Zügen und zotteligem schwarzem Haar kroch auf allen vieren auf sie zu. Ihre rechte Gesichtshälfte war zerschrammt und blutverkrustet; es sah aus, als sei sie mit der Wange über den Boden gezerrt worden.
    »Wer seid ihr?« fragte sie stockend, mit einer Stimme rauh vom Schreien.
    Mütterchen nannte ihre Namen. »Und du?«
    »Marret«, erwiderte sie kurzangebunden und so leise, daß es kaum zu verstehen war. Noch immer hockte sie auf Händen und Knien und blickte zu den beiden empor, mit den dunklen treuen Augen eines Hundes.
    Mütterchen ging ächzend in die Knie. Jeder einzelne ihrer alten Knochen schmerzte. »Warum bist du hier?«
    Ein irres Grinsen flackerte über Marrets geschundene Züge. »Als ob ihr das nicht wüßtet.«
    »Woher sollten wir?«
    »Weil er euch schickt«, sagte sie und wippte dabei mit dem Kopf. »Er schickt euch, um mich zu quälen.«
    Löwenzahn und Mütterchen wechselten einen Blick, dann sagte die Räuberin: »Keiner von uns will dir etwas zuleide tun, Marret. Und, glaub’ mir, niemand hat uns geschickt. Wir sind Gefangene, zweifellos bald Sklaven wie alle hier.« Tatsächlich wunderte sie sich, daß man sie nicht gleich in die Sklavenkette eingereiht hatte. Was sollte dieser Aufschub?
    Das Mädchen – es mochte siebzehn Lenze gesehen haben, keinesfalls mehr – lächelte schwach. »Er mag es, mich zu quälen. Mit Schmerz und mit Lüge.«
    »Ich lüge nicht«, sagte Mütterchen geduldig und mit aller Sanftheit, die sie in ihrer Lage aufbringen konnte. »Nun sag mir, warum du hier bist.«
    »Um zu leiden«, erwiderte Marret mit entrückter Miene. »Leiden, leiden, leiden.« Und dann sang sie:
     
    Allerschönste Puppe,
    Lange nicht gesehn,
    Koch mir eine Suppe.
    Ja, es soll geschehn!
    Für ein Dreier Butter,
    Für ein Dreier Bier,
    Allerschönste Puppe,
    Komm und tanz mit mir!
     
    Löwenzahn stieß Mütterchen an und verzog das geschwollene Gesicht zu einer Grimasse, die bedeuten sollte, was von dem Mädchen zu halten war.
    Doch Mütterchen ließ nicht locker. »Warum sollst du leiden, mein Kind? Wer tut dir das an?«
    »Klein-Ugo«, sagte Marret und legte sich ins schmutzige Stroh, zusammengekrümmt wie ein Kind.
    »Klein-Ugo?« fragte Löwenzahn ungläubig.
    »Der Graf«, erklärte Mütterchen. »Der fette Kerl am Fenster.«
    Marret kicherte. Ihr Blick ging durch Mütterchen und Löwenzahn hindurch. »Fetter Kerl? Laß ihn das nicht hören. Klein-Ugo kann sehr ungehalten sein. Dann ißt er seine Suppe nicht und wirft mit schlechten Dingen.«
    Mütterchen kam eine Ahnung. »Warst du seine Dienerin?«
    Das Mädchen wiegte sich im Liegen hin und her, als höre es eine Melodie. Aber da war nichts, nur der Lärm vom Innenhof. »Seine Dienerin, ja«, sagte sie. »Ich hab’ für ihn gesorgt, hab’ ihm Essen gebracht, ihn gewaschen, war immer gut zu ihm.« Ihr verklärtes Lächeln wurde wehmütig. »Ich war die einzige, die gut zu ihm war. Er war eingesperrt, daheim im Schloß. Keiner ging zu ihm. Klein-Ugo sah nie einen anderen Menschen, nur mich. Immer nur mich.«
    Löwenzahn

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