Nibelungengold 02 - Das Drachenlied
Löwenzahns Seite. Von hier aus konnten sie jenseits der Feuerbecken und Seilwinden gerade noch das Tor der Ummauerung erkennen. Männer mit Drachenwappen auf der Brust, aber ohne Helm und Rüstzeug, trugen drei mächtige Hirsche herein, gewaltige Tiere, die kopfüber an langen Holzstangen hingen. Alle drei wiesen tödliche Wunden auf, die zu groß waren, um von Pfeilen zu stammen, und zu sauber, als daß Hunde sie hätten reißen können. Die Tiere waren im Nahkampf mit dem Schwert erlegt worden.
Hinter den Trägern ritt eine finstere Gestalt in den Hof, in seinem Gefolge ein gutes Dutzend Krieger. Der Geweihte war zurückgekehrt.
Mütterchen versuchte vergebens, Einzelheiten zu erkennen. Erst als der Mann sich einem Feuer näherte und dort sein Pferd zügelte, um gefällig das Sklavenheer zu überblicken, konnte sie ihn deutlicher sehen.
Ihr Atem stockte, als sie begriff, warum man ihn den Geweihten nannte.
Kapitel 3
ine Melodie säuselte durch Alberichs Schädel. Er hatte sie nie zuvor gehört, und doch klang sie seltsam vertraut. Er wußte genau, daß er sie nicht kannte, denn er besaß einen Sinn für Musik, konnte manche Melodien schon nach dem ersten Hören auf Leier oder Flöte nachspielen. Oftmals hatte er sich so in den Tiefen des Hohlen Berges die Langeweile vertrieben, bei Spiel und Gesang der Lieder seiner Ahnen, bei der Besinnung auf Verse und Klangfolgen, die er zum letzten Mal vernommen hatte, als er noch Kind und der Hohle Berg nicht leergefegt von allem Leben war.
Aber diese Melodie, die jetzt durch seine Gedanken geisterte, schien ihm von anderer Natur. Sie hatte etwas sehr Fremdartiges, klang aber zugleich, als vereinten sich in ihr alle Töne, die jemals erklungen waren. Es war eine magische Melodie, daran hatte Alberich bald keine Zweifel mehr, und er wußte auch, daß sie mit dem Horn zusammenhing. Wollte es, daß er sie nachspielte? Konnte ein Horn überhaupt etwas wollen, so wie ein Mensch? Immerhin war es einmal der Fangzahn eines Drachen gewesen, vorausgesetzt Löwenzahns Vermutung war richtig. Und auch daran zweifelte Alberich nicht mehr.
Immer wieder erklang die Melodie in seinem Kopf, schwirrte in Höhen, sank in Tiefen, um schließlich von neuem zu beginnen.
Und dann erwachte er, und die Musik war fort.
Er wußte, daß er die Melodie geträumt hatte, wußte es ganz genau, aber er vermochte sich nicht an ihren genauen Klang zu erinnern, und das verstörte ihn.
Mehr noch beunruhigte ihn, daß er überhaupt eingeschlafen war. Seit er im Uferschlamm aufgewacht war und sich auf den Weg zurück zum Turm gemacht hatte, war kaum die halbe Nacht vergangen. Und trotzdem war er in der mächtigen Wurzel einer Eiche zusammengesunken und der Wirklichkeit entrückt. Wie lange, das vermochte er nicht zu sagen. Aber es war noch immer dunkel, und der Mond stand hoch hinter ziehenden Wolkenfetzen, so daß er annehmen durfte, es war nicht für lange gewesen.
Und wenn der Schlaf wie die Melodie von Magie verursacht war? Wenn er nicht wenige Augenblicke, sondern ganze Tage, Wochen oder Jahre verschlafen hatte?
Nein, sagte er sich mit klopfendem Herzen, wenn du anfängst, dir selbst Angst einzujagen, dann kannst du gleich aufgeben. Geh einfach zum nächstbesten Drachenkrieger und stell dich. Es wird schnell gehen, hoffentlich.
Die Finsternis machte ihm zu schaffen, mehr als er zugeben wollte, denn es war die Dunkelheit der Wälder, nicht jene heilsame, wohlige Schwärze der Bergestiefen. Wieder einmal wurde ihm klar, daß Zwerge nicht für Reisen geschaffen waren, schon gar nicht für Reisen unter freiem Himmel. Als die Überlebenden seines Volkes nach Norden gezogen waren, hatten sie die geheimen Pfade unter der Erde benutzt, Wege, die seit langer Zeit vergessen waren. Aber Wälder? Das waren Orte für Menschen und Feen und anderes Gelichter.
Alberich hatte angenommen, daß er schnurstracks in Richtung des Felsenkamms marschiert war, fern vom bewachten Ufer unterhalb der Bergausläufer, und so wunderte er sich allmählich, daß noch immer keine Spur von den Drachenkriegern und dem Turm zu sehen war.
Er schüttelte den Kopf so heftig, daß ihm der Bart um die Ohren wehte, in der Hoffnung, die Erinnerung an die unheimliche Traummelodie vertreiben zu können. Vielleicht war er deshalb so unsicher. Möglicherweise war es die Magie der Zaubermusik und somit die des Horns, die ihn in solche Verwirrung trieb.
Doch letztlich war es gleich, wo die Ursache lag, denn nur wenig später, am Fuß einer
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