Nibelungengold 04 - Die Hexenkönigin
aber ist mit meinem anderen Traum?«
Berenike ließ sich mit einem leisen Ächzen auf dem Rand ihrer Bettstatt nieder, doch der Laut wirkte falsch, als wolle sie ihre Erschöpfung nur vortäuschen. »Beschreib mir genau das Feuer, das vom Himmel regnet.«
»Es ist bunt. Anders als bei einem Brand.« Das Dach eines Burgturms hatte einmal in Flammen gestanden, und Kriemhild hatte angstvoll, aber auch fasziniert von ihrem Fenster aus zugesehen, wie der Brand gelöscht worden war. Auch damals waren Funken in den Himmel gestiegen und mit dünnen schwarzen Rauchfahnen wieder zu Boden gesunken. Doch das Feuer in ihrem Traum war anders gewesen. »Es sprüht wie eine Quelle und strahlt wie tausend große Sterne. Manchmal prasselt es wie ein Wasserfall darnieder, und manchmal verhält es beinahe reglos zwischen den Wolken, um sich im nächsten Moment in Luft aufzulösen.«
»Ein Zeichen«, sagte die Hexe nickend, »ganz gewiß.« Sie dachte einen Augenblick lang nach oder tat zumindest so. Bei ihr konnte man nie sicher sein, was wirklich und was schnöder Schein war, heraufbeschworen um ihrer eigenen, rätselhaften Ziele willen. »Und du sagst, du siehst Krankheit und Tod in deinem Traum?«
Kriemhild schüttelte den Kopf. »Ich sehe sie nicht, aber ich kann sie fühlen.« Sie hatte Mühe, ihre Empfindungen in Worte zu kleiden, doch Berenike schien sie auch so zu verstehen.
»Ich habe den Eindruck«, sagte die Alte gewichtig, »das Feuer am Himmel bedeutet, daß dein Gott ein Opfer von dir verlangt. Er offenbart dir seine Herrlichkeit, um dir zu zeigen, daß du seine Erwählte bist.«
Kriemhild wurde bei diesen Worten blaß, und ein Zittern durchlief ihren Körper. »Ein Opfer? Wofür?«
»Um die Plage, die dein Land dereinst heimsuchen wird, zu bezwingen.«
Eine sonderbare Aura schien die Hexe zu umgeben, eine Überzeugungskraft, die beinahe greifbar war. Kriemhild sah plötzlich keinen Grund mehr, ihren Worten zu mißtrauen. Nicht, daß die Alte ihr den eigenen Willen nahm, mitnichten – vielmehr war es, als verstärke die Macht der Erzhexe Kriemhilds Einsicht in Dinge, die den Menschen gemeinhin verborgen blieben. Die Hexe öffnete in ihrem Geist ein Fenster, und jenseits davon lag eine neue, fremdartige Welt voller Wunder. Kriemhild fragte sich unwillkürlich, ob ihre Mutter dasselbe empfunden hatte, als sie Berenike zum erstenmal gegenübergestanden hatte. Plötzlich verstand sie, weshalb Ute so erpicht auf den Besuch der Hexe gewesen war. Es gab so vieles zu lernen, so vieles zu begreifen.
»Wie erkenne ich, wann es soweit ist?« fragte Kriemhild. »Und was werde ich dann tun müssen?«
»Von den Unschuldigen verlangt der Christengott stets das größte Opfer: ihre Unschuld. Komm zu mir, wenn es soweit ist.« Der Blick der Hexe sengte heiß in Kriemhilds Hirn, prägte die Worte in ihren Geist wie Brandzeichen. »Komm zu mir, und ich werde dir den Weg zur Wahrheit weisen.«
»Sie hat dich behext«, sagte Jodokus, als Kriemhild ihren Bericht beendet hatte. »Da gibt es gar keinen Zweifel. Sie hat dir ihren Willen aufgezwungen.«
Kriemhild war empört. »Aber ich weiß, daß sie recht hat.«
»Weil sie es dir eingeredet hat. Sie hat irgend etwas mit dir angestellt.«
»So ein Blödsinn. Das hätte ich wohl bemerken müssen.«
»Dann nenn’ mir einen guten Grund, mit dem sie dich überzeugt hat.«
»Ich …« Und plötzlich gingen ihr die Worte aus. Es war, als weigere sich etwas in ihrem Kopf, derartige Gedanken zuzulassen, eine Art Sperre, die jeden Argwohn, jede ernsthafte Überlegung in dieser Richtung blockierte.
»Siehst du«, meinte Jodokus überzeugt.
»Aber es ist wahr«, sagte sie. »Ich weiß es ganz genau.«
Sie saßen inmitten einer Bodensenke, über der sich wie ein Dach die Arme einer mächtigen Wurzel spannten. Der Wald um sie herum war hinter einer Mauer aus Schwärze verborgen. Nicht einmal das kleine Feuer, das sie entzündet hatten, vermochte der Nacht die Umrisse der nahen Bäume zu entreißen.
Geisterhaftes Rascheln und Wispern erfüllte die Wälder, und einige Male waren sie durch glühende Augenpaare in der Dunkelheit aufgeschreckt worden. Kriemhild hatte längst die Orientierung verloren, doch der Sänger schien sich in dieser Gegend auszukennen. Am übernächsten Morgen, so hatte er gesagt, würden sie Salomes Zopf erreichen – falls Kriemhild immer noch dorthin gehen wolle.
Der befürchtete »Gegenzug«, wie Jodokus es genannt hatte, war bislang ausgeblieben, und Kriemhild
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