Nibelungenmord
Margit. Im vergangenen Jahr waren zwei ihrer Tanten gestorben. Niemand hatte sich die Mühe machen wollen, den Nachlass zu regeln, und so hatte Margit die vollständigen Tafelservice verkauft und die Einzelteile mit nach Hause genommen. Nun, heute profitierten sie davon. Wie sonst sollte man ausreichend Geschirr für nahezu siebzig Gäste bereitstellen? Margit Sippmeyer lieh nicht gern Geschirr, denn das war meistens spülmaschinentauglich und hatte nicht die Qualität, die sie gewohnt war. Und schließlich wollte man gerade dann, wenn Gäste da waren, nicht schlechter speisen als sonst.
Als Cecilia, den Karton unter dem Arm, die Treppe wieder hinunterging, fiel ihr Blick auf die Tür zu Margits Zimmer im ersten Stock. Einen Moment zögerte sie. Was, wenn sie eingeschlafen war? Das war nicht wahrscheinlich, aber ebenso ungewöhnlich war es, dass sich ihre Arbeitgeberin nicht endlich blicken ließ. Was, wenn sie plötzlich krank geworden war?
Cecilia klopfte einmal, zweimal. Drückte langsam die Klinke hinunter und öffnete zögernd die Tür.
Und erstarrte. Das Fenster stand weit offen, kalte Novemberluft strömte herein, und die hellen Vorhänge blähten sich im Wind. Der Stuhl lag umgestürzt auf dem Boden, und das Bett war unberührt. Es sah ganz so aus, als habe Margit heute Nacht gar nicht darin geschlafen.
Mit wenigen Schritten war Cecilia beim Telefon. Beinahe jedes Zimmer des weiträumigen Hauses hatte einen eigenen Apparat. Kaum hatte sie Margit Sippmeyers Handynummer gewählt, klingelte es neben ihr. Tatsächlich, dort stand Margits Handtasche. Cecilia legte auf. Wann war Margit jemals ohne Handtasche aus dem Haus gegangen?
Erst als sie mit lautem Zischen die Luft ausstieß, wurde ihr bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Vor Schreck. In ängstlicher Vorahnung. Die Ahnung, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Oder bereits geschehen war. Und während sie die Handynummer des Hausherren wählte und sich fragte, warum der an einem Tag wie diesem eigentlich auf sich warten ließ, geriet der Karton unter ihrem Arm in Schieflage, entglitt ihren Händen, und die Likörgläser zerschellten, eines nach dem anderen, auf den eleganten Steinfliesen.
*
»Wer von euch Pappnasen hat eigentlich was von einer Drachenhöhle gesagt?«, fragte Elena und biss krachend in ihr Brötchen.
»Was?«
»Im Bericht steht Drachenhöhle. Ich will wissen, warum.«
Jan war es gewesen, der den Bericht geschrieben hatte. Er schrieb immer die Berichte. Manchmal kam es ihm so vor, als sei es das Einzige, was er richtig gut konnte. Und jetzt wurde auch daran gemäkelt.
»Drachenhöhle ist nicht ganz der richtige Terminus«, sagte er und trat zum Kaffeepadautomaten, um Zeit zu gewinnen.
»Ach nein?«, fragte Elena ironisch und hielt inne, ihr Brötchen vorm Mund. Krümel und irgendwelche vollwertigen Körner rieselten durch die Luft. »Was ist denn der richtige Terminus?«
Jan unterdrückte ein Seufzen. »Streng genommen ist es nicht die Drachenhöhle. Das, was im Touristeninfo als Drachenhöhle verkauft wird, ist was anderes.«
»Schade, dass unsere Leiche nicht da gefunden wurde, dann wäre der Bericht ja zutreffend«, sagte Elena. Heute war sie noch schlimmer als sonst.
»Im Nachtigallental sind viele Höhlen, in denen früher Basalt abgebaut wurde und die teilweise vertieft oder verbreitert wurden, entweder, um sie als Weinkeller zu nutzen, oder weil sie im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller dienten. Die Anwohner nennen diese Höhlen aber trotzdem Drachenhöhlen, um auf die Sage von Siegfried dem Drachentöter anzuspielen.«
»Oha.«
»Den Kindern hier in der Gegend wird die Geschichte von Siegfried, der den bösen Drachen tötet, in seinem Blut badet und in der Drachenhöhle den Schatz findet, so oft erzählt, dass sie wahrscheinlich bei jeder Höhle automatisch an Drachen denken. Vor allem, weil Königswinter praktisch mit Drachen gepflastert ist.«
»Ich dachte, du kommst aus Frankfurt«, sagte Elena und musterte ihn neugierig mit ihren hellen Augen. Sie selbst wohnte in Köln und mied das Rentnerparadies Königswinter, wie sie es nannte, so gut sie konnte.
»Stimmt«, sagte Jan einsilbig. Er war in den ersten fünfundzwanzig Lebensjahren so oft umgezogen, dass er selbst nicht hätte sagen können, woher er kam.
»Dafür kennst du dich aber gut aus. Wie ein echter Einheimischer.«
»Ich wohne erst seit ein paar Wochen hier. Das war reine Recherche«, sagte Jan und spürte, wie kühl seine Stimme klang. Er
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