Nibelungenmord
sagte nicht, wie genau er sich an die Besuche bei seiner Großmutter erinnerte, an krümeligen Sandkuchen, den sie ihm zuliebe mit einer dicken Schicht Schokoladenglasur und bunten Streuseln verziert hatte, an die Nächte, die er neben ihr auf der Bettseite seines längst verstorbenen Großvaters gelegen hatte, an das viel zu dicke Kopfkissen, das seinen Kopf unbequem in die Höhe zwang, und an die Spaziergänge, die sie unternommen hatten, obwohl er lieber vor dem Fernseher geblieben wäre und das Ferienprogramm geguckt hätte. An regenfeuchte Waldwege, den stechenden Geruch im dämmrigen Reptilienzoo und dessen schwüle Wärme. Und an die Höhlen.
»Ob wir wohl heute den Drachen finden?«, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, und der lange schneeweiße Zopf, den sie damals noch trug, hatte ihm dabei im Nacken gekitzelt. Und schlotternd vor Angst, war er in den dunklen Eingang der Höhle getreten, einen Stock in der Hand, und hatte »Buh!« gerufen, bereit, jedem Drachen eins überzuziehen, der es wagen sollte, ihn und seine Großmutter anzugreifen.
Zum Glück war der Drache nicht erschienen, nie. Seine Großmutter musste den Stein plumpsen gehört haben, der ihm vor Erleichterung darüber, dass der Drache wieder einmal ausgeflogen war, vom Herzen gefallen war. Und während sie ihm etwas über die Farne und Pilze erzählte, waren seine Gedanken zu dem zu Hause wartenden Sandkuchen mit Schokolade und Streuseln gewandert und dem milchigen Kakao, den sie ihm dazu kochen würde.
Sie hatte ihn immer aufgenommen, wenn seine Mutter wieder einmal in die Welt gezogen war. Kein Wunder, dass er auch jetzt bei ihr untergekrochen war. Sie half ihm auch heute noch, wo sie über achtzig war und um beinahe die Hälfte geschrumpft, wie es ihm schien.
»Die von der KTU haben noch nichts für uns.« Reimann trat zu ihnen und hob die leeren Hände wie zum Beweis.
»Und Frenze?«
»Frühestens morgen Mittag, sagt er. Ansonsten nur das, was wir schon wussten: Die Frau wurde wahrscheinlich erschlagen und war noch nicht lange tot. Fundort gleich Tatort, beziehungsweise wurde sie am Eingang der Höhle niedergeschlagen und hat sich dann wohl hineingeschleppt. Über ihre Identität haben wir noch nichts.«
»Wir werden natürlich sämtliche Wirte vom Drachenfels befragen, ebenso die Mädchen, die an dem Tag die Touren mit den Eseln unternommen haben. Und dann habe ich einen Trupp geordert, der die Umgebung absucht. Vielleicht liegen Handy und Handtasche ja doch irgendwo herum«, sagte Elena.
Jan dachte an den Ehering der Toten, aber er schwieg. Warum, hätte er nicht sagen können.
Der Rauch einer brennenden Zigarette stieg ihm in die Nase, und im gleichen Moment kreischte Elena los.
»Geht’s noch, Reimann? Mach das Ding aus, sofort!«
»Ich hab doch das Fenster aufgemacht.«
»Aus damit!«
»Reg dich ab. Früher war das doch auch kein Problem.«
»Früher hatten wir auch noch kein Rauchverbot im Präsidium.«
»Man darf echt nirgendwo mehr rauchen!«
»Dann bleib halt zu Hause.«
»Da darf ich auch nicht mehr.«
Etwas geschah. Elena hielt in der Bewegung inne, warf Reimann einen ungläubigen Blick zu, der senkte seinen. Sekundenlang hing etwas zwischen ihnen in der Luft, greifbarer als die dünne graue Rauchschlange, die sich bereits verzog, dann fauchte Elena »Verstehe!« und tauchte unter ihren Schreibtisch.
Reimann hob die Achseln, betrachtete seine ausgedrückte Zigarette und warf Jan einen Blick zu. Frauen!, besagte dieser Blick.
Ja, Frauen, dachte Jan.
Er konnte gerade noch verhindern, dass ihm ein Seufzer entschlüpfte.
*
Körpersprache verriet manchmal viel. Viel zu viel, dachte Sven, als er Pauls lässig aufgestützte Ellbogen mit seinen eigenen schlaksigen Armen verglich, die immer wieder wie von selbst den Weg unter den Tisch fanden und dort unruhig herumzuckten.
Hier im Eiscafé war es wie auf dem Schulhof. Man konnte auf einen Blick erkennen, wer auf der Gewinner- und wer auf der Verliererseite stand. Und er gehörte leider zu Letzterer.
Paul war das Selbstbewusstsein in Person. Er hatte eine richtig coole Frisur, bunt gestreifte Stacheln, die vom Kopf abstanden. Er trug lässige Markenjeans, offene Sneakers und einen Kapuzenpulli. Sven hingegen hatte wie ein gehorsames Kind auf das Wetter geachtet und seine Jacke angezogen. Natürlich war es eine gute Jacke, sie war richtig teuer gewesen, aus so einem Laden für Trekkingmode. Sven hatte an den Nähten rumgefummelt, damit sie ein bisschen abgerissen
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