Nibelungenmord
anzuhören. Sie las zu viele Krimis, und immer wieder musste Jan sie darauf hinweisen, dass es in seiner Arbeit anders ablief als an den Sonntagabenden im Fernsehen.
»Tschüss dann, Edith.«
»Warte, Jan! Du hast deine Dienstwaffe hier vergessen.«
»Ich habe was?«
»Sie vergessen. Tschüss!«
Er klappte das Handy zu und runzelte die Stirn. Nach einem raschen Blick auf Elena griff er unter seine Jacke.
Tatsächlich. Er hatte beim Umziehen seine Dienstwaffe abgelegt und im Wohnzimmer liegen gelassen, griffbereit für seine Großmutter. Das war vermutlich schlimmer, als wenn er sie direkt vor eine Schule gelegt hätte.
Na super, dachte er. Noch ein Umweg.
»Elena? Ich muss noch mal nach Hause. Fahr schon mal vor.«
»War mir klar«, sagte sie. »Mach dich hübsch für den Chef. Und grüß deine liebe Frau von mir, unbekannterweise.«
Das hat sie schon mal gesagt, dachte Jan. Elenas wissendes Grinsen folgte ihm noch, als er in den Wagen stieg.
*
Die Torte war ein Meisterwerk. Vier Etagen saftiger Mandelsplitterbiskuit, mit Orangenlikör getränkt und umhüllt von einer lockeren Vanillecreme. Zarte Tuffs aus Baiser, leicht gebräunt und mit silbernen Zuckerperlen garniert, verliehen ihr einen Hauch von barocker Eleganz. Gekrönt wurde dieses Wunder der Konditorkunst von einer kandierten Rosenblüte, die von Zuckerkristallen glitzerte.
Cecilia Thomas hielt unwillkürlich den Atem an, als der Lieferant der Konditorei Dix, in der das Kunstwerk bestellt worden war, die Torte vorsichtig auf der Mitte der leinengedeckten Tafel absetzte. Man hätte sie für eine Hochzeitstorte halten können, wären da nicht die Geburtstagskerzen gewesen, die rundum auf den Etagen verteilt waren. Schmale, apricotfarbene Kerzen. Es war unmöglich, ihre exakte Zahl zu erfassen, wenn man nicht unhöflich den Finger zu Hilfe nahm und nachzählte. Und das, dachte Cecilia, war sicher Absicht, denn welche Frau machte bei einer Party schon ihr Alter zum Thema?
Immerhin feierte Margit Sippmeyer heute ihren vierzigsten Geburtstag, und das war für jede Frau hart. Vor allem für die, die reich und schön waren. Cecilia selbst hatte ihren vierzigsten Geburtstag in der Großküche verbracht, in der sie damals noch gearbeitet hatte, und abends war sie so müde, und ihre Füße waren so schwer gewesen, dass sie vor dem Fernseher eingeschlafen war. Auch wenn sie ohne Gesellschaft gewesen war und kaum Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, hatte sie wehmütig registriert, dass irgendetwas zu Ende ging.
Nun, Margit Sippmeyer würde heute jedenfalls nicht einsam vor dem Fernseher einschlafen. Die Einladungen für die Party waren seit beinahe zwei Monaten verschickt, und der gigantische Nachmittagskaffee würde nur den Auftakt bilden für eine Party mit Live-Musik, kaltem Büfett und einer Gartenbeleuchtung, die vermutlich den Partyschiffen auf dem Rhein Konkurrenz machte. Ganz buchstäbliche Konkurrenz übrigens, denn vom Pavillon aus hatte man einen wunderbaren Blick auf den Rhein, und umgekehrt könnten die Schiffsreisenden die Tausenden bunten Lämpchen bewundern, die bei Einbruch der Dunkelheit den riesigen Garten in ein Lichtermeer verwandeln würden.
Cecilia sah zum hundertsten Mal an diesem Tag auf die Uhr. Fast zwei. Es war nicht mehr viel Zeit. Gegen drei würden die Gäste erscheinen. Komisch, dass die Hausherrin noch nicht aufgetaucht war. Heute Vormittag hatte sie Termine beim Friseur und bei der Kosmetikerin gehabt, so etwas zog sich natürlich oft hin, aber inzwischen hätte sie doch eintreffen und einen letzten Blick auf die gedeckten Tische werfen sollen.
Nun, eigentlich war nichts mehr zu tun, alles war perfekt vorbereitet. Mehr um sich abzulenken, zählte Cecilia die Sektgläser, die spiegelblank poliert auf den Tabletts auf der Anrichte warteten. Zweiundneunzig waren es, das müsste reichen. Zur Not musste sie zwischendurch spülen. Aber würden die Likörgläschen ausreichen? Likör tranken doch eigentlich nur die älteren Herrschaften. Oder?
Wo waren weitere Likörgläschen? Cecilia erhob sich. Sie war sicher, in einem der Schränke im Gästezimmer kürzlich beim Aufräumen noch einen Karton gesehen zu haben. Leise ächzend stieg sie die Treppe hinauf. Das Gästezimmer lag im zweiten Stock.
Nach kurzem Suchen hatte sie den Karton mit den Gläsern gefunden. Er stand hinter einer umfangreichen Sammlung von Pfeffer-und-Salz-Streuern. Unglaublich, wie viel Geschirr diese Familie besaß! Das machten die vielen Verwandten von
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