Nibelungenmord
Kotzschlecht.
»Nein?«, fragte Paul gedehnt und knackte mit den Fingergelenken. »Meinst du etwa, Lara ist scharf darauf, den Babysitter für dich zu spielen?«
»Das reicht jetzt, Paul«, sagte Lara und stand auf. Sie griff nach ihrem rosa Rucksack, wühlte hastig in ihrer Hosentasche nach Geld und knallte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch.
»Wir sind Freunde«, sagte Sven. Er sah zu Lara hin, aber sie wich seinem Blick aus und hielt Ausschau nach dem Kellner.
»Freunde?«, höhnte Paul. »Frag sie doch! Ein Sozialfall bist du! Und wenn Laras Mutter nicht Lehrerin bei euch wäre, müsste sie sich nicht mit dir abgeben! Sie redet nur mit dir, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun!«
Manchmal wünschte Sven, sein Leben wäre ein Computerspiel. Dann müsste er jetzt nicht um Worte ringen, sondern könnte Paul einfach in seine dumme Visage ballern, mitten rein, und dann wäre er ihn los.
Das wäre leichter, als sein wattiges Hirn nach einer passenden Antwort zu durchsuchen und dabei Lara zu beobachten, die peinlich berührt in ihrem Rucksack kramte.
Und plötzlich wusste Sven, dass es stimmte. Schon allein, weil Lara sonst widersprochen hätte. Sie hätte etwas gesagt, um die Sache zu erklären, sie hätte Paul zurechtgewiesen, irgendetwas hätte sie getan, statt sich die Haare ins Gesicht fallen zu lassen, damit sie ihn nicht ansehen musste.
Er nahm seinen Rucksack und ging einfach raus. Nichts wie weg von hier. Die Italiener, die am Ausgang Spalier standen, wünschten ihm einen schönen Tag und guckten etwas erstaunt, wahrscheinlich überlegten sie, wer seine Cola wohl bezahlen würde.
Draußen war es kalt. Als sein Handy klingelte, war er fast erleichtert. Für den Fall, dass die anderen ihm hinterhersahen, tat es gut, einen Anruf entgegenzunehmen, beschäftigt zu sein, Ablenkung zu haben.
Doch ein Blick aufs Display verriet ihm, dass der Anrufer wieder nur sein Vater war. Sven drückte ihn weg. Wenn er doch alles so leicht wegdrücken könnte wie die Anrufe seines Vaters … Paul zum Beispiel. Wenn Paul ein Anruf wäre …
Oder wenn Paul ein Ork wäre, das wäre noch besser. Dann könnte er ihm einfach in die Fresse ballern, und weg wäre er.
Sven atmete tief durch. Es tat gut, an Orks zu denken. Bei denen wusste man wenigstens, was man machen musste, um sie loszuwerden.
*
Edith, wie schön du es hast! Da leben, wo andere Urlaub machen!, sagten die einen und warfen bewundernde Blicke auf die malerische Burgruine auf dem Drachenfels und den Rhein mit seinen Ausflugsschiffen.
Die anderen, und zu denen gehörte ihre Tochter Henny, fragten: Wie kannst du es in diesem Kaff nur aushalten? Sie schüttelten ungläubig den Kopf und ließen ihre Blicke vielsagend durch die schmale Hauptstraße schweifen, in der ein einsamer Teeladen und zwei Drogeriemärkte mit etlichen Touristenläden um die Gunst der Besucher buhlten.
Keines dieser Urteile bedeutete Edith etwas. Sie lebte einfach dort, wo ihr Johann sie hingepflanzt hatte. Johann war eine Jugendliebe gewesen, nur war er dann als einer der Letzten an die Front verschwunden. Als er endlich aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, stellte sie fest, dass ihm der Krieg das Bein und offenbar auch alle Tatkraft geraubt hatte. Sie heiratete ihn trotzdem. Fortan saß Johann stundenlang gedankenverloren in der Buchhandlung, die Edith gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter wieder aufbaute. Er trank unzählige Tassen Kaffee und starrte Löcher in die Luft. Edith bekam erst Henny und dann Gudrun, verkaufte Bücher und versorgte den Haushalt. Als sie eines Abends den Laden abschließen wollte und Johann von seinem Platz im Hinterzimmer aufscheuchte, stand er mühsam mit Hilfe seiner Krücken auf, lächelte sie zärtlich an und fiel tot um.
So war das gewesen, damals. Die Buchhandlung hatte sie längst verkauft, aber in Johanns Elternhaus lebte sie immer noch, auch wenn sie das oberste und das untere Stockwerk vermietet hatte.
Edith schrak zusammen, als die Verkäuferin sie ansprach.
»Guten Tag, Frau Herzberger!«
»Guten Tag, Frau …« Es war die freundliche Blonde, doch der Name wollte ihr heute nicht einfallen, und so wandte sich Edith der Auslage zu und musterte die Torten.
Es war ein Triumph gewesen, die Frau von dem Altenheim aus der Wohnung flüchten zu sehen. Edith fühlte sich erfrischt und hatte beschlossen, sich zur Feier des Tages ein Stück Kuchen zu gönnen, und zwar von dem guten bei der Konditorei Dix.
Noch vor einem Jahr hätte sie einen
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