Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
Vom Netzwerk:
weißgekachelten Präparationsraum, an den Metalltischen vorbei. Sie waren leer, nur der letzte nicht.
    »Sind Sie sicher, dass Sie sich das zutrauen? Wir können auch Ihren Hausarzt hinzuziehen. Der Leichnam ist durch die Gewalteinwirkung verändert, es könnte …«
    »Ich will Gewissheit haben, sofort.« Sippmeyer klang erschöpft.
    »Gut, dann wollen wir mal«, sagte Frenze betont sportlich und trat hinter den Tisch.
    Elena hatte sich an den Anblick von Leichen gewöhnt, an ihren Geruch jedoch nicht. Diese hier roch kaum. Dafür war der Anblick, den sie bot, erschreckend. Die Verfärbungen im Gesicht der Frau, die am Tatort bereits zu erkennen gewesen waren, hatten zugenommen und sich in ein bläuliches Dunkel verwandelt.
    Es war vielleicht einmal ein hübsches Gesicht gewesen. Die Leiche hatte mit dem Gesicht nach unten gelegen, so dass die weichen Partien der Schwerkraft gehorcht hatten. Die einsetzende Leichenstarre hatte diese Verzerrung teilweise fixiert. Trotzdem war die Ähnlichkeit mit der Frau vom Foto noch vorhanden. Elena hatte schon wesentlich Schlimmeres gesehen.
    Aber Sippmeyer nicht, dachte sie und warf ihm einen Seitenblick zu.
    Er sah aus, als ob ihm übel würde. »Woher kommen diese lila …« Ihm gingen offenbar die Worte aus, noch ehe er sie zu Ende gedacht hatte.
    »Zyanose sagen wir dazu«, erklärte der Rechtsmediziner hilfsbereit und legte den Kopf schief, als überlege er, wie das geheimnisvolle Muster am besten zu interpretieren sei. »Das Blut staut sich in der Gesichtshaut. Die Frau wurde gedrosselt. Häufig ist eine stärkere Dunsung …«
    »Danke sehr«, sagte Elena energisch und machte eine ungeduldige Handbewegung, um den Mediziner zum Schweigen zu bringen. Die physiologischen Details der Verwesung waren nichts, was man Angehörigen zumuten wollte. Vor allem nicht dann, wenn man sich noch brauchbare Auskünfte von ihnen erhoffte.
    Auf Sippmeyers Stirn hatte sich ein feuchter Film gelegt, und sein Gesicht wirkte jetzt grau.
    Der Kreislauf, dachte Elena. Noch ein paar Minuten, und er kollabiert.
    »Geht es?«, fragte sie leise, und als er ihr zunickte, versuchte er ein dankbares Lächeln.
    Sie spürte, wie ihre Aversion gegen ihn schwand. Der Mann litt. Er trauerte um seine Frau, stand unter Schock. Sie müsste sich schon sehr täuschen, wenn das gespielt war.
    Sie hatte mit ihrer Geschichte von dem blonden Mäuschen überreagiert, vorhin im Wohnzimmer, es war eine dumme, eine kindische Vorverurteilung gewesen, und sie wusste auch, warum. Wegen Reimann, dem Arschloch.
    »Sie ist es nicht«, drang die Stimme Sippmeyers in ihre Gedanken. »Das ist nicht meine Frau.«
    Die paar Meter bis zur Tür gelangen ihm noch halbwegs, dann begann er zu schwanken. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, griff ihm unter die Arme und zog ihn auf den Flur. Wenn er tatsächlich ohnmächtig wurde, sollte er beim Aufwachen nicht die blendend weiße Decke des Präparationssaals über und eine fremde Leiche neben sich sehen.
    »Schön durchatmen«, sagte sie. »Einfach atmen, los!«
    Die Farbe kehrte langsam in Sippmeyers Gesicht zurück, und er versuchte, sich aufzurichten. Die Verlegenheit darüber, dass er lag und sie stand, verlieh ihm Antrieb, dennoch knickten seine Beine bei dem Versuch sofort wieder ein.
    »Bleiben Sie einen Moment liegen«, sagte sie. »Geht es besser?«
    »Danke«, sagte er. »Hätten Sie vielleicht eine Zigarette?«
    »Leider nein«, lächelte sie. »Ich rauche nicht. Aber ich würde Ihnen hier auch keine erlauben.« Sie wies auf ein Verbotsschild über ihnen.
    »Ich rauche auch nicht«, sagte er. »Aber jetzt wäre irgendwie der richtige Zeitpunkt dafür.« Er verzog die Lippen zu einem zaghaften Lächeln, das ansteckend wirkte, jedenfalls spürte Elena, wie sich ihre Mundwinkel gleichfalls verzogen.
    »Passen Sie auf«, sagte sie. »Ich hole uns einen Kaffee aus diesem scheußlichen Automaten, und dann setzen wir uns in den Flur. Ich habe nämlich noch ein paar Fragen an Sie.«
    Ehe er reagieren konnte, war sie weg. Irgendwie hatte sie es eilig, wegzukommen. Kaffee, dachte sie, wühlte in ihren Hosentaschen nach Münzen und warf sie wahllos in den Schlitz des Automaten.
    Erst als der Automat mit hohlem Gepolter den Plastikbecher ausspuckte, merkte sie, dass sie atmen musste.
    Hormone, dachte sie. So läuft das nun mal. Eine ganz normale physiologische Reaktion auf die Nähe eines überdurchschnittlich attraktiven Mannes. Bei Reimann kamen diese Hormone erst in Schwung, wenn

Weitere Kostenlose Bücher