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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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ihnen in die Rechtsmedizin.« Seine Stimme klang erschöpft. »Es wird bestimmt bald jemand zu dir kommen. Du darfst es ihnen nicht sagen.« Die Panik in seiner Stimme kannte sie. Sie wusste genau, wovor er sich fürchtete. Und das war nicht der Anblick seiner toten Frau, so schrecklich das war.
    »Ach, Michael«, sagte sie nur und war plötzlich furchtbar müde.
    »Sag einfach, du hättest geschlafen. Sei vorsichtig, Romina. Überleg dir gut, was du ihnen erzählst. Ich komme später vorbei.« Er zögerte, schien seine Worte genau abzuwägen. »Wenn Margit etwas zugestoßen ist, dann werden sie dich sofort verdächtigen, Romina.«
    Warum ausgerechnet mich, warum nicht dich, wollte sie fragen, aber er hatte schon aufgelegt. Für einen Moment lauschte sie dem Tuten in der Leitung, dann legte sie den Hörer auf, warf einen letzten Blick in den dunklen Verkaufsraum und griff nach ihrer Jacke.
    Die Polizei sollte sie nicht in diesem Laden antreffen, unter den Augen ihrer albernen Drachen.
    Hier würden sie ihre Angst und ihre Unruhe wittern.
    *
    Für Rentner waren die Enten und Möwen wahrscheinlich ein Segen. Jedenfalls sahen die beiden Spaziergänger, die mit vollen Händen Brot- und Obstreste in die Luft warfen, echt glücklich aus. Wahrscheinlich ein altes Ehepaar.
    Jetzt, da es kalt geworden war, hatten die Vögel ständig Hunger, und die Luft war erfüllt von den heiseren Schreien der Möwen. Jede von ihnen wollte einen Brocken erhaschen, und beim Versuch, die anderen hinter sich zu lassen, krachten die Körper aneinander, schlug ein Flügel gegen den anderen, hackten gierige harte Schnäbel nach den gefiederten Köpfen der anderen.
    Die beiden Spaziergänger, die in ihren dicken Parkas am schmiedeeisernen Geländer der Rheinpromenade lehnten, störte das nicht. Sie freuten sich an dem bunten Treiben in der Luft.
    Wahrscheinlich checken sie nicht, dass es ein Kampf ist, dachte Sven. Dass die Vögel sich gegenseitig weh tun. Dass sie sich die Augen aushacken würden, nur um ein bisschen mehr zu kriegen. Weil sie Hunger haben. Oder weil sie total verzweifelt sind.
    Er hoffte, dass die beiden die Tränen in seinen Augen nicht bemerkten. Er heulte nicht nur wegen der Möwen, die so fies waren, obwohl sie sich doch freuen sollten über das Futter.
    Er heulte, weil sein Leben eine Katastrophe war. Weil er es nicht mehr aushielt. Und das, was am meisten schmerzte, war seine Dummheit. Er hatte geglaubt, dass alles besser geworden war.
    Er griff in seine Hosentasche, ohne Hoffnung, dort ein Taschentuch zu finden, und weil er recht behielt, wischte er sich das verheulte Gesicht am Ärmel ab.
    Fast hätte er die schnellen Schritte, die sich näherten, nicht gehört.
    »Hier bist du«, sagte Lara und setzte sich neben ihn. Sie schwieg erst einmal, und er war dankbar dafür. Wortlos nahm er das Taschentuch, das sie ihm reichte, und schneuzte sich. Dann starrte er weiter auf die Möwen, sah zu, wie sie flatterten und hackten und schluckten, und als schließlich die Vorräte der Spaziergänger aufgebraucht waren, sie die Tüten gewendet und wieder zusammengefaltet hatten, zerstreute sich der Möwenschwarm, und die Schreie verstummten. Schließlich war es an der Mole so still wie zuvor.
    »Können wir reden?«, fragte Lara.
    Er zuckte die Achseln.
    »Es tut mir leid, was Paul gesagt hat. Und es stimmt auch nicht, wenigstens nicht direkt. Das mit meiner Mutter schon. Sie hat gesagt, ich solle mal mit dir reden. Wegen der Sachen, die damals in Mathe passiert sind. Einfach quatschen und so.«
    »Ich will kein Mitleid«, sagte Sven, und er war froh, dass seine Stimme fast normal klang.
    »Mitleid ist nichts Schlimmes, finde ich. Das heißt ja, dass Leute einem helfen wollen. Am Anfang war es nur deswegen.«
    Sie stockte, und die Stille zitterte zwischen ihnen. Er rührte sich nicht. Sagte nichts.
    »Aber jetzt mag ich dich wirklich. Echt.«
    Er bewegte seine Hand und überprüfte, ob sie schweißnass war. Sie war es. Er wischte sie unauffällig an der Hose ab.
    »Echt«, wiederholte sie noch einmal.
    »So richtig?«, fragte er.
    »Natürlich. Wir sind doch Freunde.«
    »Ja klar«, sagte er. »Freunde.«
    Sie sah ihn an. Ihre Augen waren so hell und klar wie immer, und er suchte die blauen Flecken darin.
    In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Zum achten Mal.
    Einen Moment zögerte er, dann ging er ran. »Hallo«, sagte er.
    »Die Polizei ist hier«, sagte sein Vater. Seine Stimme klang irgendwie zersprungen. »Die glauben, dass

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