Nibelungenmord
Problem.« Es war, als seien sie plötzlich Freunde geworden, dachte Jan, als Gernhart mit einem Lächeln durch die Tür verschwunden war. Und das nur, weil sie beide der Faszination dieses Bildes erlegen waren.
Noch einmal trat er an den Tisch, um die Fotos zu betrachten. Margit Sippmeyer als Kriemhild hatte nichts von der reizenden Braut auf dem Hochzeitsbild oder der fröhlichen Urlauberin auf dem Foto der Vermisstenmeldung. Ihre Haare standen zu Berge wie bei einer Katze, die das Fell sträubt, und ihre Hand krallte sich in das lila Gewand, als wolle sie es zerreißen.
Jan stutzte. Woher kannte er das Gewand?
Das Foto. Auf dem Kaminsims bei den Sippmeyers hatte ein Foto gestanden, auf dem Margit genau dieses Kleid trug. Genau das Kleid dieser Furie, nur dass er hier erkennen konnte, dass am Ausschnitt Pailletten glitzerten.
Genau wie die, die er im Atelier gefunden hatte.
In seinem Kopf raste es.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Gernhart, die mit einigen großen braunen Papprollen zurückkam.
»Aus welchem Material ist dieses Bild? Das Original, meine ich.«
»Acryl auf Leinwand, und dazu Seide und Pailletten für das Gewand und einige Haare.«
»Haare?«
»Ja, Haare. Manche Künstler, die mit gemischten Materialien arbeiten, verwenden echte Haare in ihren Bildern, um ihnen etwas Wahres, Authentisches zu geben. In vielen Kulturen stehen die Haare für die mythische Kraft des Individuums, denken Sie an Samson aus der Bibel, dessen Kraft versiegt, als Delila sie ihm abschneidet. Eine symbolische Kastration.«
»Das ist ekelhaft«, sagte Jan tonlos. »Echte Haare in einem Bild …«
»Ekelhaft. Ja, das empfinden viele so.« Sie sah ihn an und lächelte zufrieden, als bestätige seine Reaktion ihre Überzeugung. »Das meinen Sie nur, weil ein Tabu verletzt wird, Herr Seidel. Haare berühren, weil sie so persönlich sind. Und es hängt viel Aberglaube daran, wie zum Beispiel beim Voodoo. Stellen Sie sich vor, Ihr eigenes Haar würde in einem Bild verarbeitet, vielleicht klebt es auf dem Kopf eines Opfers … Da wird Ihnen mulmig, oder? Auf jeden Fall ist das eins der Elemente, die die Bilder der Schleheck so stark machen.«
Jan hörte längst nicht mehr zu. In seinem Kopf arbeitete es weiter. Könnte es sein, dass Romina Schleheck Körperteile ihrer Konkurrentin zu einem Bild verarbeitet hatte? Die Pailletten stimmten augenscheinlich mit denen überein, die er in ihrem Atelier gefunden hatte. Gehörten sie zu Margits echtem Kleid?
Was an diesem Bild war noch echt? Wieder fixierte er das Foto, streifte misstrauisch die perlweißen, gefletschten Zähne, aber er konnte nicht mehr erkennen als vorher.
»Ich brauche die Originale«, murmelte er und griff nach seinem Handy.
Während er Elenas Nummer wählte, sprach Gernhart munter weiter.
»Das ist es, was ich an Schleheck so bewundere, sie gibt alles, malt buchstäblich mit Haut und Haaren. Sogar mit ihrem Blut, wenn Sie diese braunen Flecken …«
»Elena? Du musst sofort herkommen und dir das hier ansehen. Romina Schleheck hat wahrscheinlich alle möglichen biologischen Spuren in ihren Bildern verwurstet, und ich vermute, dass es Proben von Margit Sippmeyer sind. Haare, Blut, Pailletten von ihrem Kleid … Es ist ausgeschlossen, dass die beiden nie Kontakt hatten. Stell ein Team zusammen, das ihr Haus auf den Kopf stellt. Wir brauchen das verdammte Bild! Vermutlich finden wir dort auch Margit Sippmeyer.«
Mit weit aufgerissenen Augen hörte Gernhart zu. »Nun denn«, meinte sie, als er aufgelegt hatte. »Scheint, dass die Schleheck eben doch eine Tatverdächtige ist. Dann habe ich ja auf das richtige Pferd gesetzt.«
Sie sah sehr zufrieden aus.
Ihre PR-Kampagne für die Ausstellung würde alles Dagewesene in den Schatten stellen, so viel stand fest.
*
Laras erste SMS erreichte Sven in der Pause, und seitdem standen seine Finger keinen Moment still, kaum hatte er ihr geantwortet, traf schon die Antwort ein.
Kannst du bitte kommen?
Hab noch Doppelstunde Sport!
Es ist wichtig, ich hab was gefunden!
Was???
Nicht per SMS. Kommst du vorbei? Bin zu Hause.
OK. 20 Min
Mach schnell. Ich hab Angst
Warum?
Mach schnell
Eindeutig: Es war etwas passiert. Lara fürchtete sich. Sie brauchte ihn.
Sven widerstand der Versuchung, sie sofort anzurufen, klappte sein Handy zusammen und schwang sich aufs Rad. Zum Glück stand die Fähre bereit.
Eine knappe halbe Stunde später hatte er den weißen Bungalow in Mehlem erreicht. Das Haus ihrer Eltern erschien ihm
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