Nibelungenmord
die Spüle.
Nach kurzem Zögern nahm sie es wieder heraus und stellte es sachte auf die Fensterbank. Selbst aus Protest brachte sie es nicht über sich, ein Ei zu verschwenden, auch wenn ihr der Gedanke gefiel, dass ein reumütiger Jan heute Abend von der Arbeit nach Hause kommen und bestürzt das Frühstücksei, das er gekocht hatte, in der Spüle vorfinden würde. Kaputt, am besten.
Immerhin würde sie es nicht essen. Nicht jetzt zumindest, und nicht so, wie es gedacht war. Und je mehr sie nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass Jan nicht länger bei ihr wohnen konnte. Nicht nach dem, was er da in die Wege geleitet hatte. Sie würde ihm sagen, dass er ausziehen sollte. Heute noch.
Edith seufzte.
Denn dass dieses Ei eine Form der Anbiederung war, vielleicht gar eine Entschuldigung, das verstand sie, sowenig sie sonst ihren Enkel verstand.
Umso mehr, da ihr noch nie ein Mann ein Frühstücksei gekocht hatte, schon gar nicht mitten in der Woche.
Und bei dem Gedanken daran, wie glücklich sie sich unter anderen Umständen gefühlt hätte, wenn ihr Enkel ihr ein Ei gekocht hätte, ohne sie ins Altenheim abschieben zu wollen, bei dem Gedanken wurde sie sehr traurig.
*
Die Brille stand dem extravaganten Ring in nichts nach. Sie war violett und zackig und betonte die kleinen Augen von Angelika Gernhart sehr ungünstig, fand Jan. Die Kuratorin machte allerdings nicht den Eindruck, als ob ihr an Jans Meinung zu ihrem Äußeren irgendwie gelegen sei. Mit amüsierter Miene betrachtete sie durch die eigenartigen Brillengläser das Stück Papier, dann nahm sie das Gestell ab, klappte es zusammen und verstaute es in ihrer Schreibtischschublade.
»Eine richterliche Anordnung«, sagte sie.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich komme wieder.«
Es war leichter als erwartet gewesen, an das Schriftstück zu kommen. Immerhin gab es keinen Beweis dafür, dass Romina Schleheck etwas mit dem mutmaßlichen Tod von Margit Sippmeyer oder ihrem Verschwinden zu tun hatte, und eine Verbindung zu Valerie Koller gab es bisher auch nicht. Dass aber beide Fälle irgendwie mit dem Nibelungenlied zu tun hatten, erschien nach Elenas Zusammenfassung am Vortag plötzlich allen so logisch, als hätten sie es längst geahnt. Der Fundort der Leiche in der Drachenhöhle. Die Drachenfrau, auf die so viele Spuren wiesen und die an dem Nibelungenzyklus arbeitete, über den niemand etwas wissen durfte. Und jetzt war ihr auch noch ein Bild gestohlen worden, das nach ihren eigenen Angaben den Ehemann der Vermissten zeigte.
»Es freut mich ja, dass Sie sich so für Kunst interessieren. Ich frage mich nur, warum Sie nicht stattdessen die Originale untersuchen.«
»Und ich frage mich, warum Sie nicht einfach tun, worum ich Sie gebeten habe.«
Befriedigt sah Jan, wie die strichfeinen Augenbrauen der Kuratorin in die Höhe schossen. Dann nickte sie. »Wenn Sie einen Moment warten möchten, hole ich die Sachen.«
»Ich dachte, nur der Museumsdirektor sei befugt, über Informationen zu dem laufenden Bewerbungsverfahren zu entscheiden.«
Angelika Gernhart lächelte ihr spezielles zähneschützendes Lächeln. »Das Verfahren ist beendet.«
»So schnell?«
»Manchmal geht so etwas ganz schnell. Zum Beispiel, wenn eine Bewerberin in einem Mordfall verdächtigt wird, den der Generalanzeiger als ›Nibelungen-Mord‹ ausruft. Eine bessere Werbung hätte sich unsere PR-Abteilung kaum ausdenken können. Nicht für eine Nibelungen-Ausstellung, die sich in erster Linie auf die blutigen Aspekte des Mythos konzentriert.«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Das mit den blutigen Aspekten? Oh, das ist unser voller Ernst. Jahrzehntelang waren die Darstellungen völlig durchseucht von dieser schwülstigen Wagner-Opernästhetik. Wir werden jetzt die andere Seite der Geschichte zeigen, die authentische, kriegerische, blutige.«
»Und Sie wollen ein reales Verbrechen missbrauchen, um Aufmerksamkeit auf Ihre blöde Ausstellung zu lenken? Dies ist ein Ermittlungsverfahren, Frau Gernhart! Das ist Realität und nicht …« Er sah umher, streifte die großformatigen, vor Farbe buckligen Leinwände mit ungläubigem Blick. »… nicht das, was Sie KUNST nennen!«
Mit aufreizender Lässigkeit drehte sich die Kuratorin auf ihrem Schreibtischstuhl. »Kunst und Realität, lieber Herr Seidel, gehören zusammen. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, beweist Ihr Interesse an den Bildern von Romina Schleheck genau das. Warum sonst sollte sich die Kriminalpolizei für die Bilder einer
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