Nibelungenmord
durchdringender Geruch nach Kirsche.
»Lara?«
Er rief hinauf ins Treppenhaus, lauschte auf eine Antwort und trat dann zurück ins Wohnzimmer.
»Lara?« Seine Tochter antwortete nicht. Erst als er den kalten Luftzug spürte, fiel ihm auf, dass die Terrassentür weit offen stand. Er ging hinaus auf die Terrasse und sah sich um. Nichts. Als er ins Wohnzimmer zurückging, eine der Tassen hob und sich über den Ring ärgerte, die sie auf der Oberfläche des Tischs hinterlassen hatte, entdeckte er etwas Weißes, das unter dem Sofa hervorlugte. Es war ein Buch.
Er hatte es noch nie zuvor gesehen.
*
Der Wasserkocher brauste ohrenbetäubend, noch lauter aber toste eine Frage durch Rominas Kopf, seit ihr vorhin im Badezimmer alles wieder eingefallen war.
War jetzt alles vorbei?
Die Erleichterung, die Hoffnung, der Stolz, all das, was der Anruf der Kuratorin für einen winzigen, viel zu knappen Augenblick in ihr entfacht hatte, war von dieser Frage verdrängt worden.
Das Bild war weg.
Sie hatte Aspirin geschluckt und Wasser getrunken, und dann hatte sie sich an die Arbeit gemacht. Hatte alles durchsucht in der wirren Hoffnung, das Bild sei einfach verlorengegangen wie ein Handschuh, der einem aus der Manteltasche rutscht und dann Monate später beim Staubsaugen unter dem Sofa wieder auftaucht. Jede einzelne Leinwand in ihrem Atelier hatte sie gewendet, obwohl eigentlich sonnenklar war, dass ein so großes Gemälde wie Siegfrieds Schuld nicht zwischen kleinformatigen Arbeiten verschwinden konnte. Auch zusammengerollt maß das Bild mehr als einen Meter.
Ihren Werkzeugschrank hatte sie aufgeräumt. Obwohl sie eigentlich von sich selbst dachte, dass sie zumindest ihre Malutensilien peinlich sauber hielt, waren dabei eingetrocknete Farbtuben aufgetaucht, steife Pinsel, eine leere Terpentinflasche. Und ganz so, als spiele das irgendeine Rolle, hatte sie sich über diese Unordnung aufgeregt und sich felsenfest vorgenommen, ab jetzt regelmäßig ihren Schrank aufzuräumen. Jedes Vierteljahr. Oder besser noch alle zwei Monate.
Nach zwei Stunden schweißtreibender Schufterei, die zumindest ihren Kater ein wenig hatte vertreiben können, wusste Romina es ganz sicher.
Das Bild war weg.
Panik stieg in ihr auf, immer wieder aufs Neue. Stets überfiel diese Erkenntnis sie wie beim ersten Mal, als sie die Wolldecke entfernt und das Loch gesehen hatte, dort, wo vorher Siegfrieds Schuld gewesen war. Hätte sie das Bild nicht vor Michael verstecken wollen, hätte sie sein Verschwinden vielleicht früher bemerkt. Seit wann war es verschwunden? Seit wann hatte die Decke einen leeren Rahmen verborgen?
Ruhig, dachte Romina. Sie musste sich beruhigen, damit sie nachdenken konnte, was jetzt zu tun war.
Das Wasser hatte schon gekocht. Sie löffelte ihre Spezialmischung in das Teenetz, goss Wasser darauf und schloss die Augen.
Ruhig, dachte sie.
Der Tee würde helfen, er half immer. Baldrian, Melisse und Lavendel, alles aus dem eigenen Garten. Im Frühsommer, als sie die Kräuter geerntet hatte, war noch alles anders gewesen, eine andere Welt, ein anderes Leben. Damals hatte sie mit den ersten Entwürfen begonnen, hatte die Zeit mit Michael genossen und die Sonnenstrahlen auf der Terrasse. Damals war alles ruhig und heiter gewesen.
Eine Illusion, dachte sie. Als ob sich eine betrogene Ehefrau einfach so ausknipsen ließe in den Stunden, die der Ehemann sich gönnte. Als ob friedliche, sonnige Nachmittage auf der Terrasse etwas von Dauer sein könnten. Als ob jemals ein echtes Kunstwerk geschaffen werden könnte, ohne dass mindestens ein Mensch mit Schweiß und Tränen damit bezahlte.
Und mit Blut.
Ruhig bleiben, dachte Romina. Nachdenken.
Es gab nur eine Möglichkeit. Sie durften es nicht wissen. Das Museum durfte nichts vom Verschwinden des Bildes erfahren. Sie hatten die Kopien vorliegen, vielleicht reichte ihnen das erst mal. Und dann musste sie die Kuratorin vertrösten. Kleine Änderungen in den Details könnte sie vorschieben. Etwas mit der Versicherung, nein, das ging nicht, aber vielleicht eine Krankheit …
Der Anruf bei der Polizei war ein Fehler gewesen. Dort würde man ihr ohnehin nicht helfen können, und falls man ihre Meldung ernst nahm, würde man Fragen stellen, Fragen, die nicht bis zu der Museumsdirektion dringen durften.
Sie musste Zeit schinden. Wenn die Vorankündigung der Ausstellung gelaufen war, konnte nichts mehr passieren. Wenn erst die Sponsoren informiert waren und die Stadt … Dann würde man
Weitere Kostenlose Bücher