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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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nichts mehr ändern wollen. Dann würde man die Ausstellung durchziehen, und zwar mit Siegfried, ganz gleich, ob es der echte war oder eine Nachbildung.
    Und sie konnte einfach eine Kopie anfertigen. Vielleicht würde sie nicht so gut werden wie das Original, ganz bestimmt sogar nicht, aber Romina wäre wieder Künstlerin und damit unzweifelbar gerettet. Gerettet vor ihrem Comicdrachen, gerettet vor diesen schrecklichen Touristen, vor grabschenden Kleinkindern, die alles fallen ließen. Sie musste nicht mehr nicken und danke sagen und freundlich sein. Und alles hübsch in Papiertüten mit Schleifen verpacken. Sie konnte wieder sie selbst sein.
    Sie trank den Tee in kleinen Schlucken. Sie würde Michael brauchen als Modell. Es ging nicht ohne Michael.
    Gut, dass sie ihm gestern noch nicht gesagt hatte, dass es aus war. Was für ein unverhofftes Glück! Sie würde sich weiterhin mit ihm treffen müssen, ihm Liebhaberin sein, bis sie das Bild ein zweites Mal fertiggestellt hatte.
    Egal, dachte Romina. Ganz egal. Einfach Augen zu und durch. Und dann diese Ausstellung … Alles von vorne, ganz wie früher. So läuft dieser verdammte Betrieb. Einfach durch. Ausgestellt werden. Besprochen werden. Verkaufen. Hauptsache, keine Comicdrachen und Touristen mehr.
    Du hast es geschafft, denk nur daran, dachte Romina. Auch wenn es sich jetzt nicht so anfühlt, du hast es geschafft.
    Denk nicht mehr an das Bild. Es bedeutet nicht mehr das, was es mal bedeutet hat. Kriemhild ist verschwunden, die Liebe zu Siegfried ist erloschen, das Dreieck zerbrochen. Es hat keine Bedeutung für dein Leben, nicht mehr, aber es kann dir einen guten Start verschaffen.
    Das verdammte Bild.
    Romina spülte die Tasse unter fließendem Wasser ab und sah dabei aus dem Fenster. Der Schnee war schon wieder geschmolzen, natürlich. Kein Schnee vor Januar, nicht hier im Rheinland. Die Bruchsteinplatten glänzten vor Nässe. Wenn der Winter vorbei war, würden sich dazwischen erste Schlüsselblumen zeigen, und später würden fröhliche blaue Glockenblumen wild durcheinanderwachsen.
    Und erst jetzt, als sie ihren Gedanken einen Augenblick der Ruhe gönnte, tauchte die wirklich wichtige Frage auf, die Frage, die sie sich schon die ganze Zeit hätte stellen müssen.
    Wer hatte das Bild gestohlen? Und vor allem, warum?
    Es kam nur ein einziger Mensch in Frage. Einer, der um jeden Preis verhindern würde, dass es ausgestellt wurde.
    Michael.
    *
    »Die Leute sind so weit«, sagte Elena. »Von mir aus können wir.« Sie stutzte. »Jan? Alles in Ordnung mit dir?«
    »Einen Moment brauch ich noch, geht schon mal vor.« Er deutete vielsagend auf seinen Bildschirm und wartete, bis die anderen das Büro verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten.
    Nichts war in Ordnung.
    Für eine kurze Zeitspanne hatte die Erregung, die das Gespräch mit der Kuratorin über Siegfrieds Schuld in ihm ausgelöst hatte, ihn vom Grübeln abgehalten. Jetzt aber begannen Siegfried und die mutmaßliche Mörderin zu verblassen und Raum für andere Gedanken zu lassen. Gedanken an gestern. An Edith. An Nicoletta. An das, was mit ihm los war. An diese merkwürdige Störung, die seine Beziehung kaputt gemacht hatte.
    Eigentlich hatte es mit Nicoletta angefangen. Nicoletta hatte die merkwürdige Eigenheit, mit Schlafbrille zu schlafen. Anfangs hatte er das lustig gefunden, später dann befremdlich. Jedes Mal neigte sie sich nach dem Sex zu ihm, drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, setzte ihre Schlafbrille auf und schlief in derselben Sekunde ein, als fiele sie ins Koma. Auf dem Rücken liegend, mit locker ausgestreckten Armen und gleichmäßigen Atemzügen. Er konnte ungestört ihr Gesicht mustern, die bebenden Nasenflügel, die pochende Ader am Halsansatz, den Hügel ihres Leberflecks. Anfangs hatte er es genossen, dann hatte er sich unwohl gefühlt. Es war nicht normal, dass man seine Freundin derart ungestört betrachten konnte, fand er. Und dadurch, dass sie diese Brille trug, war er vor Entdeckung ganz sicher.
    Er hatte versucht, das Ding als eigenartiges Accessoire zu sehen, wie eine seidene Fessel oder Augenbinde. Das hatte durchaus seinen Reiz gehabt, bis er gemerkt hatte, dass von der Frau hinter der weißen Schaumstoffbrille keine Reaktion zu erwarten war, leblos und schlaff widerstand sie allen Stimulationsversuchen. Sie schlief. Wie eine Tote schlief sie, wie er mit einigem Grausen dachte.
    Dann war da diese Mädchenleiche gewesen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit

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