Nibelungenmord
macht.«
Jan nickte, weil er dieses Thema nicht zu diskutieren gedachte. Aber er fragte sich, was Michael Sippmeyer wohl dazu sagte, dass er demnächst mitsamt seinen blanken Genitalien in der Bundeskunst- und Ausstellungshalle hängen sollte. Möglicherweise hatte er als Geliebter einer Künstlerin einen kreativen Blick auf so etwas, aber die meisten Museumsbesucher hatten das mit Sicherheit nicht. Und seine Klienten und Nachbarn? Gab es irgendeinen Menschen, der nicht Rockstar war, der so etwas tolerieren würde?
Unmöglich, dass Sippmeyer von diesem Bild wusste. Oder, wenn er davon wusste, so ahnte er gewiss nicht, dass es ausgestellt werden sollte. Jan selbst jedenfalls würde alles in seiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass so etwas von ihm veröffentlicht wurde.
Alles in seiner Macht Stehende? Wirklich alles?
Ja, dachte Jan.
Es war merkwürdig. Dieses Bild bot Michael ein wunderbares Motiv, seine Geliebte zu ermorden. Er hatte seinen Ruf als Notar und als Privatmann zu verlieren, von den Konsequenzen für seine Ehe einmal ganz abgesehen, wenn bekannt wurde, dass er sich von seiner Geliebten derart provokant malen ließ.
Ja, wenn Romina Schleheck als Leiche im Kühlfach der Rechtsmedizin läge, wüsste Jan genau, wen er aufsuchen würde. Aber so einfach war es leider nicht.
Schon mehrfach im Verlauf der Ermittlungen war überlegt worden, ob es sich bei den Frauen um eine Verwechslung handeln konnte. Sehr gut möglich, dass jemand Margit statt Valerie Koller ermorden wollte.
Aber Romina Schleheck? Niemand konnte Romina Schleheck mit den beiden zartgliedrigen, blonden Frauen verwechseln.
Er wandte sich wieder Angelika Gernhart zu, die weitere Fotos arrangierte. Er stutzte. Auch diese Gesichter kamen ihm bekannt vor.
»Die Siegfried-Darstellung ist Mittelteil eines Triptychons, also eines dreiteiligen Gemäldes«, erklärte Gernhart. »Im Zentrum steht Siegfried, der strahlende Held. Links und rechts von ihm stehen die Frauen, die um ihn streiten, also Kriemhild und Brünhild. Sie sehen, dass die beiden nur aufeinander fixiert sind. Es ist ein Zitat der bekannten Szene Streit der Königinnen, bei dem die beiden Frauen um den Vortritt in das Münster von Worms kämpfen. Eine sehr schöne Darstellung davon gibt es übrigens hier auf Schloss Drachenburg im Nibelungenzimmer, das Wandgemälde ist vor wenigen Jahren aufwendig renoviert worden. Wir überlegen, ob wir es einbeziehen können, wenigstens für den Ausstellungskatalog. Schleheck hat allerdings die Geschichte verändert. Normalerweise zeigen die Darstellungen nur die beiden streitenden Frauen. Dadurch, dass bei diesem Bild Siegfried selbst im Zentrum steht, vollzieht sich eine völlige Neuordnung der Ereignisse. Der strahlende Held, Opfer seines eigenen tödlichen Charismas.«
Wenn Blicke töten könnten, dann wären die beiden Frauen auf den Bildern – unverkennbar Romina und Margit – auf der Stelle tot von der Leinwand gefallen. Sie verkrallten ihre Blicke förmlich ineinander, die Gesichter verzerrt vor Hass, die Hände gekrümmt, als wollten sie jeden Moment aufeinander losgehen. So wie Gernhart die Fotos jedoch arrangierte, war das nicht möglich, denn zwischen ihnen befand sich Siegfried mitsamt der goldenen Aura, die ihn umgab. Der Gegensatz zwischen dem Mittelbild, aus dem die Sonne zu scheinen schien, und der Aggression auf den angrenzenden Leinwänden machte Jan schwindlig, und er musste sich abwenden.
Wieder beobachtete ihn die Kuratorin, und sie schien seltsam zufrieden mit seiner Reaktion. »Es wird ein großartiger Erfolg werden«, sagte sie. »Kaum jemand kann sich diesem Bild entziehen.«
Selbst ein Banause wie ich nicht, dachte Jan.
»Es gibt noch eine Reihe kleinformatiger Bilder, die dazugehören, sechs an jeder Seite, sie illustrieren wichtige Szenen der Geschichte. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen die auch noch zeigen.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Jan. »Ich muss alles mit ins Präsidium nehmen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie bekommen die Fotos unbeschadet zurück.« Die Milde in seiner Stimme überraschte ihn.
»Kein Problem. Wir haben bald die Originale hier, da spielen die Fotos keine Rolle. Und für unseren Ausstellungskatalog werden wir ohnehin noch bessere Aufnahmen machen müssen.«
»Können Sie mir die Bilder so verpacken, dass ich sie unbeschadet ins Präsidium transportieren kann?«
»Aber gern. Ich hole Ihnen ein paar Versandrollen. Wenn wir die Bilder rollen, ist der Transport kein
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