Nibelungenmord
Tatverdächtigen interessieren?«
»Romina Schleheck ist keine Tatverdächtige, und ich muss Sie auffordern, sie auch nicht so zu bezeichnen. Und jetzt hätte ich gern alles, was Sie über diesen gottverdammten Nibelungenzyklus haben.«
»Einen kleinen Moment«, sagte die Kuratorin und lächelte honigsüß. Dann stöckelte sie hinaus.
Sie kam so schnell zurück, dass die Unterlagen sich im Nebenzimmer befunden haben mussten. Sie breitete einige großformatige Fotografien auf dem Tisch aus, und Jan trat neugierig näher. Er wusste nicht, was er erwartete, längst waren die scheußlichen Fratzen der Selbstporträts mit den zahmen Comicdrachen in seinem Kopf eine Mischung eingegangen.
Niemals aber hätte er mit dem gerechnet, was er sah.
Das Bild war schön. In der Mitte ruhte der nackte Michael Sippmeyer in einer Pose, die Jan auf irgendeinem Kalenderbild schon einmal gesehen haben mochte. Er sah stark aus und kraftvoll, und beim Anblick des Muskelspiels auf dem nackten Körper verspürte Jan ein unerklärliches Schamgefühl, das ihn irritierte. Eigentlich hätte er darüber grinsen müssen, dass da ein Tatverdächtiger nackt vor ihm ausgebreitet lag, und zwar ganz nackt, aber das Gegenteil war der Fall. Obwohl seiner Kleidung beraubt, strahlte der Mann auf dem Bild eine Aura aus, die jeden anderen in seiner Gegenwart schrumpfen ließ. Oder war es, gerade WEIL er seiner Kleidung beraubt war?
Jan zuckte zusammen, als er den Blick der Kuratorin auf sich fühlte.
»Es ist beeindruckend, nicht?«, fragte sie, und ausnahmsweise war ihre Stimme frei von Ironie. »Diese Ruhe, diese Kraft. Schleheck hat winzige Goldpartikel eingearbeitet, um dieses Strahlen zu erzielen, wenn Sie näher herangehen, können Sie auch die Goldfäden in den Haaren sehen. Schauen Sie, auf dieser Vergrößerung ist es ganz deutlich.«
Gegen seinen Willen näherte Jan sein Gesicht der Fotografie. Viel zu nah war ihm jetzt das männliche Gesicht Sippmeyers, das kantige Kinn, die kräftige, fleischige Nase, der Bartschatten und das strahlende Gold der Haare.
»Natürlich kann eine Fotografie den Effekt der unterschiedlichen Materialien nur ungenügend wiedergeben, umso mehr freue ich mich auf das Original.«
»Sie schwärmen ja förmlich«, sagte Jan, ohne den Blick vom Foto zu wenden. »Dafür, dass Sie vor kurzem noch nicht wussten, ob diese Bilder es wert sind, ausgestellt zu werden, finde ich das etwas eigenartig.«
»An der Qualität der Bilder bestand nie ein Zweifel. Es ging nur um die Frage nach der Urheberschaft und darum, ob wir eine Künstlerin mit einer derartigen Vita in einem geförderten Museum plazieren können.«
»Wissen Sie, wen das Bild zeigt?«
Der Blick, der ihn traf, war verächtlich wie gewohnt.
»Siegfried. Da gibt es gar keinen Zweifel. Es ist das Idealbild eines charismatischen Helden. Natürlich sind auch einige Requisiten versteckt, die ihn eindeutig identifizieren, wenn Sie schauen, er hockt nicht auf einer Decke, sondern auf einem Umhang, das ist der bekannte Tarnmantel. Und dann das Schwert rechts im Bild, das ist Siegfrieds berühmtes Schwert Balmung, wie wir es aus anderen Darstellungen kennen.«
»Tarnmantel? Ich dachte immer, er besaß eine Tarnkappe.«
»Oh, das ist nur ein dummer kleiner Übersetzungsfehler. Im Original heißt es, warten Sie … da er die tarnkappen sît Albrîche án gewan. « Die Kuratorin zitierte mit sichtlicher Lust. Sie schien ihren kleinen Auftritt zu genießen.
»Im mittelhochdeutschen kappe entdecken Sie unschwer das Wörtchen ›Cape‹. Es handelt sich also um ein Tarn-Cape – einen Tarnumhang oder, wenn Sie so wollen, einen Tarnmantel.«
Es störte Jan, dass die Kuratorin alles wusste. Okay, sie hatte den Kram studiert, vor allem, seit sie diese Ausstellung vorbereitete, aber trotzdem kam er sich blöd vor neben ihr. Es war ein Gefühl, das er hasste. Er kannte es nur zu gut. Immer, wenn seine Familie zusammentraf, redeten sie stundenlang über kulturelle Themen. Seine Welt war einfach eine andere. Seine Welt war die Realität.
Er hingegen wusste, wen das Bild in Wirklichkeit zeigte. Und auch wenn er mit diesem Wissen vor der Kuratorin nicht prahlen würde, so verschaffte es ihm doch ein wohliges Gefühl der Überlegenheit.
»Wissen Sie, um wen es sich bei dem Modell handelt?«
»Modelle sind egal«, sagte die Kuratorin, ohne den Blick von der Fotografie zu wenden. »Sie stehen nicht für sich selbst als Individuen, sondern für das, was der Künstler aus ihnen
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