Nibelungenmord
inzwischen vertraut. Lara öffnete wortlos und ging dann, ohne sich nach ihm umzublicken, ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa kauerte.
Er überlegte, ob er seine schmutzigen Schuhe ausziehen sollte, ließ es dann bleiben und folgte ihr.
»Was ist los, Lara?«
Vor ihr auf dem Couchtisch lag ein Buch. Es war ein Buch, das er nur zu gut kannte. Irgendein blöder Krimi, den seine Mutter wieder und wieder verschlungen hatte. Er klappte es auf und las Margit Sippmeyers Namen, der mit schwarzer Tinte auf der Innenseite des Buchdeckels stand, ganz so, wie sie alle ihre Bücher beschriftet hatte.
Offenbar war Lara auf ihrer Suche nach einer Verbindung zwischen den beiden Elternpaaren fündig geworden. Erst hatte sie Fragen gestellt. Aber ihr Vater hatte Lara dasselbe gesagt wie der Polizei. Nein, er kenne Svens Eltern nicht. Nie gesehen, nie gesprochen. Möglich, dass seine Frau in ihrer Funktion als Lehrerin einmal Kontakt zu ihnen aufgenommen hatte, davon wusste er jedoch nichts.
Dieses Buch sprach eine andere Wahrheit. Entweder hatte Margit es verliehen oder hier vergessen. Beides war nichts, was mit Valeries Funktion als Lehrerin zu tun haben konnte. Gab es noch eine andere Möglichkeit?
Lara zog die schmalen Schultern hoch, als sei ihr plötzlich kalt geworden. Sie starrte aus dem Fenster, und als sie endlich den Mund öffnete, klang ihre Stimme leise und schwach. »Was soll ich ihm denn jetzt sagen? Ich kann ihn doch nicht fragen, wie das Buch in unser Regal kommt! Er ist gerade bei der Polizei, weil die noch Fragen wegen irgendwelcher Unstimmigkeiten haben. Was, wenn …« Ihre Stimme erstarb.
»Verdammte Scheiße«, murmelte Sven, und er wünschte, ihm fiele etwas Besseres ein.
In Laras Augen schimmerte es verdächtig, und sie zwinkerte.
»Beruhig dich erst mal, okay? Kann ich was für dich machen? Ich meine, habt ihr Tee oder so?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in die Küche, füllte den Wasserkocher und stellte ihn an. Im Küchenschrank fand er verschiedene Pappschachteln mit Tee, an denen er aufmerksam schnupperte. Kirsch-Vanille. So etwas mochten Mädchen.
Komisch, dachte Sven, während er die Beutel in zwei bunte Keramikbecher hängte und mit brodelndem Wasser aufgoss. Komisch, wie leicht alles geworden war. Als wären seine Zeiten als problematischer Teenager, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte, plötzlich weggewischt. Als hätte ihn jemand umgepolt und zu jemandem gemacht, der einem Mädchen wie Lara half, richtig half, indem er zuhörte und Tee kochte und instinktiv wusste, was ihr guttat. Kaum zu glauben, dass er sich vor wenigen Monaten noch hatte umbringen wollen. Dass er regelmäßig, wenn die Straßenbahn eingefahren war, dieses Zucken im Knie gehabt hatte, dieses Bedürfnis, einfach einen Satz nach vorne auf die Gleise zu machen. Dass da immer diese Frage gewesen war: Warum eigentlich nicht? Oder vielmehr: Warum eigentlich das alles?
Er stellte die Tassen auf ein etwas angeschlagenes Tablett, das auf der Mikrowelle lag, nahm eine Packung Butterkekse und ging zurück ins Wohnzimmer. Lara hatte die Füße aufs Sofa gezogen und hielt die Arme verschränkt, als sei sie von einem plötzlichen Temperatursturz überrascht worden. Sie sah blass und verschreckt aus.
»Trink mal was«, sagte er und reichte ihr die Tasse.
Sie nahm sie wortlos entgegen.
»Pass aber auf, ist voll heiß.«
Sie verzog den Mund zu einem winzigen Lächeln und stellte die Tasse vor sich auf den Couchtisch, ohne wirklich hinzusehen. »Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie. »Wie kommt das Buch hierher? Mein Vater hat doch gesagt, dass er deine Mutter gar nicht kennt. Oder haben vielleicht unsere Mütter …« Sie verstummte.
»Hm.« Er rührte in seiner Tasse, aus der ein betäubender Geruch nach Kirsche stieg. Was sollte er jetzt sagen? Es gab eine Erklärung, die halbwegs nahelag. Es war auch egal, ob man das erklären konnte oder nicht. Sie hatten eine Verbindung gesucht und das Buch gefunden. Punkt. Mission erfüllt.
»Mein Vater würde nie …« Sie brach ab und blickte zur Haustür. Das Geräusch zuklappender Autotüren.
»Er kommt«, flüsterte sie. »Von der Polizei. Sven, was soll ich denn jetzt machen?«
Ihr Blick hing angstvoll an ihm, aber es lag auch etwas anderes darin. Sie vertraute ihm. Sie brauchte ihn.
»Komm mit«, sagte er.
Als Peter Koller eine halbe Minute später ins Wohnzimmer trat, fand er dort nichts als zwei dampfende Tassen auf dem Couchtisch. In der Luft hing ein
Weitere Kostenlose Bücher