Niceville
Der Pate pfeifen müssen.
»Soll ich mal ein bisschen Feldforschung betreiben?«, fragte Beau.
»Gute Idee«, sagte Nick.
Er stieg aus, beugte sich hinunter und sagte durch das offene
Fenster: »Aber pass auf. Achte auf ihre Hände. Ihr Straßenname ist Iris, aber
in Wirklichkeit heißt sie Brandy Gule. Möglicherweise verkauft sie für Lemon
Featherlight, so genau wissen wir das noch nicht, aber die Tatsache, dass sie
hier ist, wenn wir uns mit Lemon unterhalten wollen, hat was zu bedeuten. Darum
will ich, dass sie hier im Wagen sitzt, wenn ich zurückkomme. Ich will mit ihr
reden. Und noch was, Beau – hör mir gut zu: Du schätzt sie auf fünfzehn, aber
sie ist vierundzwanzig, eine Ausreißerin aus einer Kleinstadt in den
Carolinas.«
»Sie sieht aus wie ein Teenager.«
Beaus Stimme war weich und voller Mitgefühl. Nick beugte sich so
weit hinunter, dass er ihm in die Augen sehen konnte.
»Sie ist aber kein Teenager, Beau. Das musst du kapieren. Sie hat
einen Gefängniswärter mit einer Nagelfeile umgebracht. Sie hat sie ihm erst ins
Auge und dann in den Hals gestochen. Er ist auf dem Boden ihrer Zelle
verblutet. Die Überwachungskamera hat sie gefilmt: Sie hat Kaugummi kauend auf
dem Bett gesessen und zugesehen, wie er sich auf dem Boden hin und her gewälzt
hat.«
Beau verzog das Gesicht.
»Was hatte er getan?«
»Versucht, sie zu vergewaltigen. War nicht das erste Mal.«
Nick klopfte auf das Wagendach, warf einen Blick auf die Hip-Hopper,
die gerade um die Ecke verschwanden, sah nicht zu Brandy Gule und ging durch
die schmutzige Glastür in das Büro der Bewährungshelfer.
Das Innere wurde von zahlreichen Neonröhren an der Decke erhellt.
Die abgestandene Luft roch nach Kaffee und bewegte sich träge durch den Raum,
angetrieben von einem großen Ventilator mit Flügeln, die wie Engelsschwingen
aussahen. Die Teppichfliesen hatten praktisch genau die Farbe von Hundekotze
und waren an den Ecken aufgebogen.
Im Wartebereich standen fünf bunt gemischte billige Klappstühle
aufgereiht an der Wand. So früh am Samstagvormittag war keiner von ihnen
besetzt, denn die meisten Klienten dieser Einrichtung lagen noch in einem
Durcheinander aus verkrusteten Laken im Bett, starrten an die Decke und
versuchten herauszufinden, was zum Teufel sie geritten hatte, als sie getan
hatten, was sie jetzt glaubten, gestern Nacht getan zu haben.
Die schwarzhaarige Frau mit dem säuerlichen Mund hinter dem Tresen
kannte Nick noch nicht. Sie blickte kurz auf, als er die Tür schloss, runzelte
die Stirn und fuhr fort, auf der Tastatur zu tippen, wobei sie starr auf den
Bildschirm sah. Nick wünschte ihr einen guten Morgen und erhielt keine Antwort.
»Ist Lacy in ihrem Büro?«
»Sie hat einen Klienten«, sagte die Frau gereizt und ohne
aufzusehen. Nick nahm an, dass sie keine Polizisten mochte. Es gab viele
Menschen, die keine Polizisten mochten. Manchmal mochte auch er keine
Polizisten. Er beherrschte sich und sagte ruhig: »Ich bin vom CID .
Lacy wollte mich sprechen. Sie hat gesagt, es ist dringend. Sagen Sie ihr
bitte, dass Nick –«
Die Frau sah ihn an.
»Ich weiß, dass Sie von der Polizei sind, Detective Kavanaugh.
Jeder, der hier reinkommt, weiß, wer Sie sind. Sie sind hier wohlbekannt. Miss
Steinert ist sehr beschäftigt. Wenn sie frei ist, werde ich ihr sagen, dass Sie
da sind.«
Offenbar hatte sie das Gefühl, ihn auf seinen Platz verwiesen zu
haben, denn sie wandte sich wieder ihrer Tastatur zu. Nick sah auf ihren Kopf
und betrachtete ihren Scheitel. Die schwarz lackierten Nägel waren zu lang und
mit kleinen rosaroten Peace-Zeichen versehen. Die Fußspur des Großen
Amerikanischen Hühnchens , dachte Nick. Ihr enger schwarzer Rock
war hinaufgerutscht. Sie hatte schöne Oberschenkel.
»Wie heißen Sie?«, fragte er und richtete sein gewinnendstes Lächeln
auf ihren Scheitel. Irgendetwas in seinem Ton drang zu ihr durch.
Wahrscheinlich war es die Beherrschung darin.
Sie sah auf und wirkte jetzt ein wenig aufmerksamer.
»Gwen Schwinner.«
Sie fuhr fort zu tippen und verströmte Antipathie.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Gwen«, sagte er zu ihrem Scheitel.
»Nennen Sie mich Nick. Wie wär’s, wenn Sie Lacy jetzt gleich Bescheid sagen
würden, Gwen? Bitte, bitte.«
Nick machte sich auf einen vernichtenden Blick gefasst, doch sie
hielt den Kopf gesenkt. Immerhin hörte sie auf, die Tastatur zu bearbeiten.
Vielleicht überlegte sie, welche Art von Vernichtung sie auf ihn loslassen sollte.
Schließlich
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