Niceville
Verkehr herrschte, ein reges Kommen und Gehen. Der graue Regen ließ
die Gestalten jenseits der Windschutzscheibe verschwimmen, die Reifen des Crown
Vic zischten auf dem nassen Asphalt, und über allem trieben Nebelschwaden
dahin.
»Du hast doch eine Ausgehuniform, Beau?«
Beau warf ihm einen kurzen Blick zu und sah wieder auf die Straße.
»Tig will, dass wir am Freitag nach Cap City fahren«, fuhr Nick
fort. »Um Cullen and Belfair County zu vertreten. In Ausgehuniform.«
Beau machte ein besorgtes Gesicht.
»Die Sache ist die, Nick: Ich hab inzwischen ein bisschen
zugenommen. Ich weiß gar nicht, ob die mir überhaupt noch –«
Jetzt erst drang die Erkenntnis zu ihm durch.
»Du meinst, Tig will, dass wir beide gehen?
Du und ich ?
Als Vertreter für die anderen?«
»Das ist der Plan. Wie viel hast du zugenommen?«
»Ich … Sechs, sieben Kilo vielleicht. Die Jacke kriege ich
wahrscheinlich gar nicht mehr zu.«
»Du hast noch vier Tage. Lass die Uniform von Gabriel weiter machen.
Wenn’s sein muss, zieh ein Korsett an. Gabriel hat welche in der Kleiderkammer.
Du brauchst dich nicht zu schämen. Es ist verdammt schwer, in einer
Ausgehuniform gut auszusehen. Viele tragen ein Korsett, um schlanker zu wirken.
Du solltest das auch tun. Ich will, dass du tippfit aussiehst. Für Tig ist das
wichtig.«
Beau legte die Stirn in Falten.
»Tippfit?«
»Ein Army-Ausdruck: Tipptopp und topfit. Tippfit.«
Beau verstand nicht. Nick seufzte und ließ ihn das Problem allein
lösen. Doch Beau hatte es schon vergessen – sein Gesicht glättete sich. Er
strahlte entzückt.
»Das werde ich, Nick. Ich meine, ich fühle mich geehrt, dass ich
gefragt werde.«
»Hier ist es«, unterbrach ihn Nick.
Sie näherten sich der Einkaufsstraße am Rand von Tin Town, einem
heruntergekommenen Viertel, das Nicevilles Version eines gefährlichen Slums
war. Es hatte sich nördlich der Flussbiegung, wo Nicevilles Bar- und
Kneipenviertel lag, am Ufer des Tulip ausgebreitet.
Tin Town entsprach voll und ganz dem Anforderungsprofil für einen
gefährlichen Slum: fünfundzwanzig bis dreißig Blocks voller baufälliger Holzbungalows,
eingezäunter Grundstücke, Schrottplätze, Bars, kleiner, wie Forts gesicherter
Geschäfte, Wohnwagensiedlungen hinter verrosteten Maschendrahtzäunen, Kneipen
mit vermauerten Fenstern und leerstehender Häuser voller Crackraucher und
Kakerlaken.
Das Haupterzeugnis dieses Viertels war eine tödliche Mischung aus
bitterer Not, unterbelichteten Ganoven, sinnlosem Morden und nacktem Ruin.
Über dem einen Ende der Einkaufsstraße hing ein großes Schild aus
den fünfziger Jahren, dessen Aufschrift The Miracle Mile großflächig abblätterte.
Die Miracle
Mile , die weder ein Wunder noch eine Meile lang war, bestand aus
etwa fünfzehn heruntergekommenen Geschäften, die in einer unregelmäßigen Reihe
standen. Die Dächer hingen durch, und an vielen Stellen fehlten die Dachziegel.
Das Büro der Bewährungshelfer von Belfair and Cullen County – von
ihrer Klientel nur »die Schnüffler« genannt – lag hinter einer mit einem weiß
lackierten Stahlgitter versehenen Schaufensterscheibe und war eingezwängt
zwischen einem Discounter und einem Pornoladen.
Über dem Pornoladen – dem florierendsten Unternehmen weit und breit – blinkte ein blauer Neonschriftzug den Namen des Geschäfts in die Welt: Porn ’R’
Us . Jedes Mal, wenn Nick das Ding sah, hätte er am liebsten
darauf geschossen.
Als Beau vor dem Büro hielt, schlenderten vier abgerissen wirkende
schwarze Jugendliche in Hip-Hop-Klamotten, die dort herumhingen, davon. Einer
von ihnen sah sich um – Raubtieraugen unter der seitwärts aufgesetzten Mütze.
Beau und Nick blickten ihnen schweigend nach.
»Welcher von denen hat eine Kanone?«, fragte Nick.
Beau dachte kurz nach.
»Der mit der Sporttasche. Wenn wir ihn verfolgen, kann er sie über
einen Zaun werfen, und dann haben wir das Problem, ihm Waffenbesitz
nachzuweisen.«
»Sehr gut. Siehst du das Mädchen mit der Gothic-Aufmachung und den
Doc Martens? Da drüben, beim Helpy Selfy?«
Beaus Blick glitt zu einem magersüchtigen weißen Mädchen mit
stachligem, blau gefärbtem Haar und schwarzen Löchern, wo die Augen hätten sein
sollen. Sie trug eine zerfetzte dunkelrote Strumpfhose und eine sechs Nummern
zu große schwarze Lederjacke und lehnte an der Mauer, ließ ihren Kaugummi
schnalzen und starrte unverwandt auf die Straße. Um noch schuldiger zu wirken,
hätte sie schon die Titelmelodie von
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