Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
Farbe aus ihrer Umgebung wich und alles dunkler wurde, bis sie schließlich blind war. Sie verlor ihren Geruchssinn, und es kribbelte in den Fingerspitzen und Zehen, als ihr Tastsinn nachließ und dann völlig ausgeschaltet war. Sie wusste, dass sie jetzt auch nicht mehr in der Lage wäre, etwas zu schmecken. Nur das Gehör blieb ihr, das jetzt sehr viel besser als vorher und äußerst empfindlich war.
Perenelle hörte in den Wänden hinter sich Käfer krabbeln, hörte das Ratsch-Ratsch einer Maus, die irgendwo an Holz nagte, und wusste, dass sich weiter weg eine Ameisenkolonne durch die Bodendielen fraß. Sie hörte auch zwei Stimmen, hoch und dünn, als kämen sie aus einem schlecht eingestellten Funkgerät. Perry legte den Kopf schief und konzentrierte sich. Sie hörte Wind pfeifen, Kleider flattern, die schrillen Schreie von Vögeln. Sie wusste, dass die Stimmen, die sie belauschte, vom Dach eines Gebäudes kamen. Sie wurden lauter, es trillerte, und dann waren sie plötzlich klar und deutlich zu hören: die Stimmen von Dee und der Morrigan. Perry hörte die Angst in der Stimme des Magiers und die Wut im schrillen Tonfall der Krähengöttin.
»Sie muss dafür bezahlen! Sie muss!«
»Sie ist eine Erstgewesene. Unantastbar für unsereinen.« Dee versuchte offensichtlich, die Morrigan zu beruhigen.
» Niemand ist unantastbar. Sie hat sich eingemischt, wo sie nicht erwünscht war. Meine Kinder hatten den Wagen fast schon überwältigt, als ihr Geisterwind sie davonriss.«
»Flamel, Scathach und die beiden Humani sind entkommen.« Dees Stimme hallte, und Perry musste sich sehr anstrengen, um jedes Wort zu verstehen. Es freute sie, dass Nicholas Scathach um Hilfe gebeten hatte; sie war eine ausgezeichnete Verbündete. »Sie sind wie vom Erdboden verschwunden.«
»Sie sind vom Erdboden verschwunden«, fauchte die Morrigan. »Er hat sie in Hekates Schattenreich gebracht.«
Perenelle nickte instinktiv. Natürlich! Wohin sonst? Der Eingang zu Hekates Schattenreich im Mill Valley lag in unmittelbarer Nähe von San Francisco. Hekate war zwar nicht unbedingt eine Freundin der Flamels, aber sie weigerte sich auch, Dee und die Dunklen Älteren zu unterstützen.
»Wir müssen ihnen nach«, bestimmte die Morrigan kategorisch.
Dee versuchte, sie zur Vernunft zu bringen. »Unmöglich. Ich habe weder die nötigen Fähigkeiten noch die Macht, in Hekates Schattenreich einzudringen.« Es entstand eine kleine Pause, dann fügte er hinzu: »Und du auch nicht. Sie ist eine Erstgewesene, vergiss das nicht. Sie entstammt der ersten Generation des Älteren Geschlechts und du bist aus der nächsten Generation.«
»Aber sie ist nicht die einzige Erstgewesene an der Westküste!« Triumph klang aus der Stimme der Morrigan.
»Was schlägst du vor?« In Dees Frage schwang wieder Angst mit und sein englischer Akzent kam durch.
»Ich weiß, wo Bastet schläft.«
Perenelle Flamel lehnte sich an die kalte Mauer und ließ ihre Sinne langsam wieder zurückkommen. Der Tastsinn kam zuerst – spitze Nadeln schossen durch ihre Finger und Zehen -, dann der Geruchs- und Geschmackssinn und schließlich das Sehvermögen. Während sie blinzelnd wartete, bis die winzigen bunten Lichtpünktchen vor ihren Augen verschwanden, versuchte sie zu begreifen, was sie gerade erfahren hatte.
Die Morrigan wollte Bastet wecken und Hekates Schattenreich angreifen, um an die fehlenden Seiten aus dem Codex zu gelangen. Was das für Folgen hätte, mochte sie sich gar nicht vorstellen.
Perenelle schüttelte sich. Sie war Bastet nie begegnet – und sie kannte auch niemand, der eine Begegnung mit ihr überlebt hätte, zumindest nicht in den letzten drei Jahrhunderten -, aber sie kannte ihren Ruf. Bastet war eine der mächtigsten im Älteren Geschlecht, eine Erstgewesene wie Hekate, und sie war in Ägypten seit Beginn der Menschheit als Göttin verehrt worden. Sie hatte den Körper einer wunderschönen jungen Frau und den Kopf einer Katze, doch Perenelle hatte keine Ahnung, über welche magischen Kräfte sie verfügte.
Die Ereignisse folgten einander Schlag auf Schlag. Das war ungewöhnlich. Etwas Großes geschah. Als Nicholas und Perenelle vor etlichen Jahrhunderten das Geheimnis ewigen Lebens entdeckten, hatten sie gemerkt, dass ihre unbegrenzte Lebenszeit es ihnen erlaubte, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sie planten nichts mehr Tage oder Wochen im Voraus, sondern machten stattdessen Pläne für die nächsten Jahrzehnte. Perry hatte
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