Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
konnten.
Perenelle hatte rasch gelernt, dass Geister bestimmte Farben nicht erkennen konnten – Blau- und Grüntöne und gewisse Abstufungen von Gelb -, und so holte sie ganz bewusst diese Farben in ihre Aura und verschaffte sich einen Schutzschild, der sie in dem Reich, wo die Totenschatten sich versammelten, unsichtbar machte.
Perenelle öffnete die Augen weit und konzentrierte sich auf ihre Aura. Deren natürliche Farbe war ein zartes, frostiges Weiß, das die Toten anzog wie ein Leuchtfeuer. Darüber hatte sie, wie ein Maler, der sein eigenes Bild übermalt, andere Farben gelegt: ein leuchtendes Blau, Smaragdgrün und Schlüsselblumengelb. Jetzt ließ Perenelle diese Farben eine nach der anderen verblassen, zuerst das Gelb, dann das Grün und schließlich den blauen Verteidigungsring.
Dann kamen die Geister. Von ihrer frostweißen Aura angezogen wie die Motten vom Licht, flackerten sie um sie herum auf: Männer, Frauen und Kinder in Kleidern, wie man sie in den vergangenen Jahrzehnten getragen hatte. Perenelle ließ den Blick über die farblosen Erscheinungen gleiten, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte. Frauen und Mädchen in den langen, fließenden Röcken des 18. Jahrhunderts und Männer mit den Stiefeln und Patronengürteln des 19. tat sie gleich ab und konzentrierte sich auf diejenigen Geister, die nach der Mode des 20. oder 21. Jahrhunderts gekleidet waren. Schließlich entschied sie sich für einen älteren Herrn in der modern aussehenden Uniform eines Wachmanns. Sie schob alle anderen Erscheinungen sacht beiseite und rief ihn näher zu sich heran.
Perenelle verstand es, wenn Leute – vor allem in modernen, gebildeten Gesellschaftsschichten – vor Geistern Angst hatten, obwohl sie wusste, dass dazu kein Grund bestand. Ein Geist war nichts anderes als die Überbleibsel der Aura einer Person, die an einem bestimmten Ort festhielten.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?« Die Erscheinung hatte eine kräftige Stimme und einen leichten Ostküstenakzent. Boston vielleicht. Der Mann stand groß und aufrecht da wie ein ehemaliger Soldat und sah aus, als sei er ungefähr sechzig Jahre alt.
»Können Sie mir sagen, wo ich bin?«, fragte Perenelle.
»Sie befinden sich im Keller des Hauptsitzes der Enoch Enterprises, gleich im Westen des Telegraph Hill. Fast direkt über uns ist der Coit Tower«, fügte der Geist stolz hinzu.
»Sie scheinen sich sehr sicher zu sein.«
»Das sollte ich auch. Ich habe dreißig Jahre hier gearbeitet. Natürlich nicht immer für die Enoch Enterprises, aber Gebäude wie dieses brauchen stets Wachmänner. Während meiner Schicht ist nie etwas passiert!«
»Darauf können Sie stolz sein, Mr…«
»Das bin ich auch.« Der Geist hielt inne, seine Erscheinung flackerte heftig. »Miller. So hieß ich. Jefferson Miller. Ist schon eine Weile her, seit mich jemand danach gefragt hat. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Sie haben mir bereits sehr geholfen. Zumindest weiß ich jetzt, dass ich immer noch in San Francisco bin.«
Der Geist schaute sie unverwandt an. »Haben Sie etwas anderes erwartet?«
»Ich fürchte, ich habe geschlafen, und hatte Angst, man hätte mich aus der Stadt gebracht«, erwiderte sie.
»Hält man Sie gegen Ihren Willen fest, Ma’am?«
»So ist es.«
Jefferson Miller schwebte näher. »Das ist nicht recht.« Es entstand eine lange Pause, in der seine Erscheinung leise flimmerte. »Aber ich kann Ihnen leider nicht helfen. Sehen Sie – ich bin ein Geist.«
Perenelle nickte. »Ich weiß.« Sie lächelte. »Aber ich war mir nicht sicher, ob Sie es auch wissen.« Einer der Gründe, weshalb Geister oft bestimmten Orten verbunden blieben, war der, dass sie einfach nicht wussten, dass sie tot waren.
Der alte Wachmann lachte keuchend. »Ich wollte gehen … Aber irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht habe ich, als ich noch am Leben war, einfach zu viel Zeit hier verbracht.«
Wieder nickte Perenelle. »Ich kann Ihnen helfen, von hier zu entkommen, wenn Sie das möchten. Das könnte ich für Sie tun.«
Jefferson Millers Augen weiteten sich. »Das möchte ich sehr gern. Meine Frau Ethel ist zehn Jahre vor mir verstorben. Manchmal bilde ich mir ein, dass ich sie über die Schattenreiche hinweg nach mir rufen höre.«
»Sie möchte Sie nach Hause holen. Ich kann Ihnen helfen, die Stricke durchzutrennen, die Sie an diesen Ort binden.«
»Kann ich Ihnen dafür auch einen Gefallen tun?«
Perenelle lächelte. »Ja, ich wüsste da etwas… Vielleicht könnten Sie
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