Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
Schattenreiche besucht, hatte Wunder gesehen und Ent setzliches erlebt. Und sie hatte ein außerordentlich gutes Gedächtnis, hatte bestimmt alles abgespeichert, jede Regung, jeden Gedanken und jede Angst. Die Morrigan würde sich an alldem gütlich tun. Wenn sie dann mit ihr fertig war, war die legendäre Perenelle Flamel wie ein Säugling ohne Verstand. Die Krähengöttin warf den Kopf zurück und öffnete den Mund zum Gesang. Bald war es so weit.
Die Morrigan wusste, dass Perenelle irgendwo in den Gängen unter dem Wasserturm war. Sie wusste auch, dass es noch einen zweiten Eingang dazu gab, der jedoch nur bei Ebbe zu erreichen war. Obwohl der Gezeitenwechsel erst in ein paar Stun den stattfinden würde, hockten überall auf den Felsen und Klippen um den Tunneleingang herum schon jetzt Krähen mit
rasiermesserscharfen Schnäbeln.
Dann zuckten die Nasenflügel der Morrigan.
Neben Salz und Jod von der See, neben verrostetem Metall und porösem Stein und dem modrigen Gestank zahlloser Vögel roch sie plötzlich noch etwas anderes … etwas, das nicht hierhergehörte, nicht an diesen Ort und nicht in diese Zeit. Etwas Uraltes, Bitteres.
Der Wind drehte sich und der Nebel wirbelte mit. Plötzlich glitzerten salzige Tropfen auf einem Silberfaden, der vor ihr in der Luft hing. Die Morrigan schloss kurz die pechschwarzen Augen. Als sie sie wieder öffnete, schwang ein weiterer Faden in der Luft, dann noch einer und noch einer. Die Fäden bildeten Kreise und durchkreuzten sie dann wieder. Es sah aus wie ein Spinnennetz.
Es war ein Spinnennetz.
Sie sprang auf die Füße, als eine unförmige Riesenspinne aus dem Schacht unter ihr schoss und am Fuß des Wasserturms landete. Die großen, mit Widerhaken versehenen Füße verankerten sich im Metall. Dann kam das Monster zu der Krähengöttin heraufgewuselt.
Der Vogelschwarm, der den Wasserturm umkreiste, stob kreischend auseinander und verfing sich sofort in dem gewaltigen Netz, das über ihm hing. Etliche Krähen fielen auf ihre dunkle Herrin herunter und begruben sie unter einer zuckenden Masse aus Federn und klebrigen Netzfäden. Die Morrigan schnitt sich mit ihren rasiermesserscharfen Fingerklauen frei, zog ihren Umhang zurecht und wollte gerade abheben, als die Spinne über den oberen Rand des Wasserturms kroch und sie zurückhielt, indem sie einen ihrer gewaltigen, mit Widerhaken versehenen Füße auf sie stellte.
Auf dem Rücken der Spinne saß rittlings Perenelle Flamel. Sie hielt einen glühenden Speer in der Hand, beugte sich vor und lächelte die Morrigan an. »Du wartest auf mich, nehme ich an.«
K APITEL Z WEIUNDFÜNFZIG
S ophie rannte.
Sie hatte keine Angst mehr, spürte keine Übelkeit und keine Schwäche mehr. Sie musste einfach nur zu ihrem Bruder. Josh war direkt vor ihr, in einem Raum am Ende des Tunnels. Sie sah schon den goldenen Schimmer seiner Aura, der die Dunkelheit erhellte, und roch den feinen Duft von Orangen.
Sie überholte Nicholas, Johanna und Saint-Germain, ignorierte ihre Rufe, doch stehen zu bleiben, und rannte auf den leuchtenden Türbogen zu. Sie war schon immer eine gute Läuferin gewesen und hielt in den meisten Schulen, die sie besucht hatte, den Streckenrekord über 100 m, doch jetzt flog sie fast den Gang hinunter. Und mit jedem Schritt verdichtete sich ihre Aura, geschürt von Wut und Entschlossenheit. Ihre geschärften Sinne nahmen alles auf, ihre Pupillen schrumpften zu winzigen Pünktchen zusammen, um sich im nächsten Augenblick in silberne Scheiben zu verwandeln. Sofort war die Dunkelheit verflogen und sie sah jedes schockierende Detail der Katakomben.
Ihre Nase nahm eine Vielzahl von Gerüchen wahr – Schnecke und Schwefel, Verfaultes und Verschimmeltes –, doch der Orangenduft, den die Aura ihres Bruders aussandte, überlagerte alles.
Und sie wusste, dass sie zu spät kam: Seine Kräfte waren bereits geweckt worden.
Sophie ignorierte auch den Mann, der vor der Kammer kauerte, stürmte durch die offene Tür … und augenblicklich verhärtete sich ihre Aura zu einem Panzer aus Metall, als goldene Feuerblitze von den Wänden abprallten und auf sie zuschossen. Sie wankte, angeschlagen von so viel Energie. Rasch hielt sie sich am Türrahmen fest, um nicht auf den Gang hinausgedrängt zu werden.
»Josh!«, hauchte sie. Was sie sah, erfüllte sie mit Ehrfurcht.
Josh kniete auf dem Boden vor einer Gestalt, die nur Mars sein konnte. Der riesenhafte Ältere hielt ein Breitschwert, dessen Spitze die Decke berührte, in
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