Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
gefragt, ob von den Zwillingspaaren, die gestorben sind, nicht doch eines das legendäre Paar war, und ob es nicht dein Übereifer war, der ihren Tod verursacht hat oder für ihr Verrücktwerden verantwortlich war?«
»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke«, erwiderte Flamel ernst.
Palamedes setzte sich wieder und starrte auf das in die Erde geritzte Spielbrett. Er machte einen Zug, blickte auf und sagte sehr leise: »Wenn du einen Schritt näher kommst, bringe ich dich um.«
Flamel bezweifelte nicht, dass er es ernst meinte.
Flamel verbrachte die meiste Zeit des Tages im Taxi, hörte die Nachrichten im Radio, schaltete von einem Sender zum nächsten, um herauszufinden, was geschah. Es waren wilde Spekulationen im Umlauf und in Gesprächsrunden und bei Höreranrufen wurden die gewagtesten Theorien aufgestellt. Doch echte Nachrichten gab es nur wenige. Aufgeschreckt von ihren Kollegen in Frankreich, die von einer terroristischen Bedrohung größeren Ausmaßes sprachen, hatten die britischen Behörden sämtliche Flug- und Seehäfen geschlossen. An allen größeren Straßen gab es Kontrollpunkte, und die Polizei riet den Leuten, nur zu verreisen, wenn es absolut unumgänglich war. Flamel hatte schon immer gewusst, dass die Dunklen Wesen des Älteren Geschlechts mächtig waren und dass sie Agenten in sämtlichen Gesellschaftsschichten hatten, doch das war die bisher deutlichste Demonstration ihrer Macht.
Als der Nachmittag in den Abend überging, schlenderte der Alchemyst durch das hohe Gras um die Scheune herum und trank von dem Wasser, das Palamedes im nächsten Dorf gekauft hatte. Normalerweise war Flamel ausgesprochen geduldig – alchemystische Versuche erforderten schon von Natur aus sehr viel Zeit und Geduld –, aber die Warterei hier machte ihn wütend. Stonehenge war keine Meile entfernt, und innerhalb dieses Steinkreises gab es ein Krafttor, das mit Mount Tamalpais verbunden war. Flamel war sich bewusst, dass er selbst nicht mehr die Kraft hatte, das Tor zu öffnen, aber die Zwillinge hatten sie. Er war sicher, dass es sie genauso nach Hause zog wie ihn. Von San Francisco aus konnte er sich dann an Perenelles Befreiung machen. Entweder es würde ihm gelingen oder er würde bei dem Versuch sterben. Doch selbst wenn es ihm gelingen sollte, sie von der Insel zu holen, fürchtete er allmählich, dass ihnen nicht mehr viel übrig blieb, außer zu sterben.
Der Alchemyst lehnte sich an den Stamm einer der alten Eichen am Rand der Wiese und schaute durch das dichte Blätterdach hinauf in den Himmel. Dann ließ er sich auf die harte, trockene Erde sinken. Er hielt seine Hände ans Licht: Es waren die von dicken Adern durchzogenen Hände eines alten Mannes. Als er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, sah er dünne, kurze Strähnen durch die Luft segeln. Seine Knöchel waren geschwollen, und wenn er saß oder stand, spürte er einen stechenden Schmerz in der Hüfte. Das Alter holte ihn ein. Seit letzten Donnerstag, als Dee in seine Buchhandlung marschiert war, musste er um ein Jahrzehnt gealtert sein, obwohl es sich schon anfühlte wie zwei oder drei. Er hatte so viel von seiner Aura verbraucht und sie nicht wieder aufgeladen, dass der Alterungsprozess immer schneller fortschritt. Sein Energiespiegel war gefährlich niedrig, und er wusste um die sehr reale Gefahr, dass es bei ihm zu einer Spontanverbrennung kommen konnte, wenn er seine Aura in nächster Zeit noch mehr beanspruchte.
Ohne den Codex würden er und Perenelle sterben. Flamel lächelte bitter. Abrahams Buch der Magie befand sich im Besitz von Dee und seinen Meistern und die würden es ganz bestimmt nicht zurückgeben. Flamel streckte die Beine aus, schloss die Augen, wandte das Gesicht der Sonne zu und ließ sich von ihrer Wärme einhüllen. Er würde sterben. Nicht irgendwann, nicht eines fernen Tages in der Zukunft – nein, er würde sehr bald sterben. Was würde dann mit den Zwillingen geschehen? Sophie musste noch in zwei Zweigen der Magie ausgebildet werden, Josh hatte noch vier vor sich. Und wer würde mit ihrer Ausbildung fortfahren? Sollten sie alle ihre gegenwärtige missliche Lage überleben, musste er vor seinem Tod noch ein paar Entscheidungen treffen, das wusste er. Er überlegte, ob Saint-Germain wohl bereit wäre, die Zwillinge unter seine Fittiche zu nehmen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er dem Grafen hundertprozentig trauen konnte. Vielleicht gab es jemanden in Amerika, den er darum bitten konnte, vielleicht
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