Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
kommst du hierher?«
»Fünfmal, vielleicht auch sechsmal die Woche.«
»Oh?«
»Ich bin gewöhnlich jeden Morgen, wenn ich den Laden verlassen habe, zum Embarcadero hinuntergegangen, bin die Promenade entlangspaziert und schließlich bis zum Ende dieses Piers geschlendert. Wo, dachtest du denn, dass ich in dieser Stunde sei?«
»Ich dachte, du seist auf einen Kaffee über die Straße gegangen.«
»Tee, Nicholas«, korrigierte Perenelle auf Französisch. »Ich trinke Tee. Du weißt, dass ich keinen Kaffee mag.«
»Du magst keinen Kaffee? Seit wann?«
»Erst seit ungefähr achtzig Jahren oder so.«
Flamel blinzelte. Seine hellen Augen spiegelten das Blau des Wassers. »Ich wusste es. Glaube ich.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Vielleicht«, gab er zu. Er blickte den Pier hinunter. »Der ist hübsch. Und ziemlich lang dazu.«
»Fünf Meter breit und zweihundertzwanzig Meter lang«, erklärte sie bedeutsam.
»Ah.« Flamel nickte. Er hatte verstanden. »Der Trick besteht darin, den Lotan gar nicht erst an Land kommen zu lassen.«
»Wenn er aufs Trockene kommt, haben wir verloren.« Perenelle zeigte nach links, wo Alcatraz hinter der Biegung der Bucht verborgen war. »Die Strömung um die Insel herum ist sehr stark. Alles, was ins Wasser geht, wird hier herunter gespült in die Bucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er weiter oben an Land geht.«
»Wenn er es doch tut …«, begann Flamel.
»Wenn er es doch tut, werden wir uns etwas überlegen«, beendete Perenelle den Satz. Dann lächelte sie, um ihren Worten die Spitze zu nehmen. »Falls die Strömung ihn über die Brücke hinaustreibt, besteht die Gefahr, dass er auf der anderen Seite der Bucht landet, vielleicht in Alameda. Bis wir um diese Zeit und bei dem starken Nachmittagsverkehr dort sind, dauert es eine Weile. Er würde immensen Schaden anrichten, bevor wir bei ihm wären.«
»Also müssen wir ihn unbedingt hier aufhalten«, schlussfolgerte Flamel.
»Genau. Du hast gesagt, ich soll dich so nah wie möglich ans Wasser bringen. Ich nehme an, du hast einen Plan?«
»Ich habe immer einen Plan, meine Liebe.«
Sie hörten schnelle Schritte hinter sich, drehten sich um und sahen Prometheus und Niten auf sich zueilen. Beide Männer hatten Angelruten geschultert.
Der schlanke Japaner grinste. »Fragt ihn nicht, was es gekostet hat, die Dinger zu mieten.«
»Wie viel?«, fragte Flamel.
»Zu viel«, antwortete Prometheus wütend. »Die Miete für zwei Stunden ist so hoch, dass ich dafür ein ganzes Fischerboot hätte kaufen können oder zumindest ein sehr gutes Fischgericht«, knurrte er. »Außerdem mussten wir noch eine Kaution hinterlegen für den Fall, dass wir sie nicht zurückbringen.«
»Wie sieht unser Plan aus?«, fragte Niten. Er hielt einen leeren Eimer hoch. »Wirklich angeln können wir gar nicht. Wir haben keine Köder.«
»Aber natürlich haben wir die.« Flamel lächelte. » Ihr seid die Köder.«
Niten und Prometheus lehnten am Geländer der halbrunden Aussichtsplattform ganz am Ende von Pier 14. Sie hatten die Angeln ausgeworfen und unterhielten sich leise. Für die Stadt oder die Brücke, Treasure Island oder den Embarcadero hatten sie keinen Blick. Nichts unterschied sie von ganz gewöhnlichen Anglern.
Nicholas und Perenelle saßen auf Stühlen hinter ihnen. Der Alchemyst hatte entdeckt, dass es sich um Drehstühle handelte, und machte sich jetzt einen Spaß daraus, sich mal nach rechts und mal nach links zu drehen. Sein Stuhl quietschte bei jeder Drehung. Irgendwann hielt Prometheus es nicht mehr aus und blickte den Unsterblichen finster an. »Wenn du das noch einmal tust, verfüttere ich dich höchstpersönlich dem Lotan.«
»Und ich helfe dabei«, fügte Niten hinzu.
Plötzlich stand Perenelle auf. »Es kommt etwas«, sagte sie leise.
»Ich sehe nichts …«, begann der Alchemyst, doch dann entdeckte auch er es. Eine sich schlängelnde Welle, eine dunkle Unregelmäßigkeit im Wasser der Bucht. Er drehte sich zu dem Älteren und zum Schwertkämpfer um. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt.«
Sie nickten und stellten sich wieder zu ihren Angeln.
Flamel wandte sich an seine Frau. »Perenelle.«
Auch die Zauberin nickte. Sie lehnte sich ans Geländer und betrachtete die Menschen auf dem Pier. Einige waren ganz offensichtlich Touristen – die Kameras waren ein todsicheres Indiz –, während die junge Frau mit dem Kind im Sportwagen wahrscheinlich in San Francisco wohnte. Dann waren da noch zwei ältere Fischer, die
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