Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
befreienden Sozialismus glaubende Menschen waren. Aber das politische Urteil kann nicht danach gefällt werden, ob wir innerhalb einer Partei, die einen antidemokratischen Kurs verfolgt, auch Idealisten finden. Die politische Analyse hat nach der Macht und der Ohnmacht zu fragen. Und wer die Frage nach Macht und Ohnmacht aufwirft, kommt zu einfachen Urteilen.
Es ist oftmals eine große Distanz zu einem Wissensgut, das bereits erarbeitet ist, das wir aber wegen einer traditionellen Wahrnehmungsverweigerung nicht mehr anschauen, weil wir uns noch nicht von romantischen Zielvorstellungen des Politischen verabschiedet haben. Auch die Geschichte der Kirche kennt dieses Festhalten an einem durch Wissen längst überholten Glaubenskonzept. Das erleben wir ähnlich in weiten Teilen der postsozialistischen Gesellschaft. Wahrnehmungsverweigerung, selektive Erinnerung, Legendenbildung sind vielfach bestimmend, Trennung und Abschied hingegen sollen verhindert werden, denn sie tun weh.
Die vielleicht wichtigste Devise lautet: Das Volk ist der Souverän. Wenn eine Macht sich Arbeiter-und-Bauern-Staat nennt, die Arbeiter und Bauern aber der Möglichkeit freier, gleicher und geheimer Wahlen beraubt, dann gibt es ein fundamentales Legitimationsdefizit. Wer sich nicht von uns allen auf dem Wege solcher Wahlen Macht auf Zeit borgt, ist kein legitimierter Herrscher, sondern er okkupiert die Macht. Das kann zeitweise erfolgreich sein. Auch böse Gesellschaften haben manchmal Anteile an einem Modernisierungsschub, aber was sie nicht haben, das ist Legitimität. Ohne freie Wahlen gibt es keine Demokratie, die diesen Namen verdient.
Zudem kannten wir in der DDR keine Gleichheit vor dem Gesetz, von einem Rechtsstaat konnte keine Rede sein. Und wie in der vormodernen Politik konzentrierte sich die Macht in einer Hand, es gab keine Gewaltenteilung. Gewiss, wir hatten Gerichte, aber die inzwischen geöffneten Archive zeigen uns den direkten Durchgriff der Macht auf das Handeln der Gerichte und die Gesetzgebung. Das Parlament war eine überflüssige Institution. So hatten wir es mit einer dreifachen Destabilisierung dieser nichtdemokratischen Gesellschaft zu tun: einem Legitimations-, Legalitäts- und Gewaltenteilungsdefizit.
Wenn im Gebäude einer Gesellschaft die gewachsene Stabilität fehlt, benötigt sie Ersatzstabilität: Kaderpolitik, Planwirtschaft, Pressezensur und schließlich ein Ministerium für die Sicherheit des Staates. So kommt es, dass sich dieses Land für sechzehn Millionen Menschen eine Geheimpolizei zugelegt hat, die schätzungsweise dreimal so groß war wie die Adolf Hitlers für achtzig Millionen. Damit habe ich nicht gesagt, die Stasi sei schlimmer als die Gestapo gewesen. Aber es ist bemerkenswert, dass eine Herrschaftsform, die vorgibt, die Interessen der Arbeiter und Bauern umzusetzen, so viel Geheimpolizei braucht wie nie zuvor eine Regierung in der deutschen Geschichte.
Wenn ich so hart über die DDR urteile, bin ich sicher, dass auch in diesem Auditorium einige denken, ich urteilte über ihr Leben und ihre Lebensleistung. Ich will ausdrücklich sagen: Das tue ich nicht. Was Angst und Anpassung heißen, weiß ich. Es steht mir nicht zu, irgendjemanden zu verurteilen, weil er sich stärker angepasst hat als ich. Ich habe mich auch mehr angepasst als – zum Beispiel – die Regisseurin Freya Klier 11 oder manch anderer Oppositionelle. Ja, viele von uns sind selbst Opfer dieses Anpassungssyndroms geworden. Doch wir sprechen nicht dem einzelnen Individuum ein Unwerturteil zu, wenn wir eine antidemokratische Gesellschaft delegitimieren, sondern dem System. Deshalb sollten wir uns vor einem nüchternen und starken Urteil nicht fürchten, weil es ein Element des geistigen und psychischen Abschieds von dieser Diktatur ist, zu einem Nein finden, zu dem wir früher zu schwach waren.
Die Antwort auf die Frage, wer die Macht okkupiert und die Ohnmächtigen ohnmächtig gehalten hat, muss zwangsläufig zu einer entschlossenen Absage ohne Wenn und Aber an das System führen.
Was wir ehemaligen DDR -Bürger nun seit rund zehn Jahren haben, ist ein Land ohne Mauern mit einer offenen Gesellschaft, in der Gutes wie Böses möglich ist. Das System der vergrößerten Bundesrepublik ist ein System, das keineswegs einen Höchstwert darstellen kann – nein: Es ist nicht frei von Mängeln. Die Verführung ist zwar groß, einem allgemeinen Guten anzuhängen und im Vergleich mit diesem Paradies all das, was vor uns ist, mehr oder
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