Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
die real existierende Demokratie vom Rhein.
Uns Deutschen in West wie Ost war die Perspektive der Einheit ja fast gänzlich abhanden gekommen. Haben wir nicht geradezu herablassend über Ronald Reagan gelächelt, als er dem sowjetischen Staatschef vor dem Brandenburger Tor über die Mauer hinweg seine berühmten Worte zuraunte: »Mr. Gorbatschow, tear down this wall!« An dieser Stelle sei auch an jene erinnert, die nicht auf eine ferne Einheit warten wollten und einzeln ihren Weg ins Freie suchten: Ausreisende und Flüchtlinge. An sie zu denken heißt auch, sich derer zu erinnern, die ihren persönlichen Traum von der Freiheit mit dem Leben bezahlt haben. Beschämt denke ich manchmal daran, dass auch wir dagebliebenen Oppositionellen den Freiheitswillen der Weggehenden nicht richtig würdigen konnten. Tatsächlich haben sie aber die individuelle Selbstbestimmung lange vor anderen umgesetzt.
Ich habe dankbar vernommen, dass mein Vorredner die Toten des DDR -Grenzregimes gewürdigt hat. Wir denken in dieser Stunde auch an all die anderen, die die Tage der Befreiung und der Freude über die Einheit nicht mehr erleben konnten. Ich schließe die aufständischen Frauen und Männer des 17. Juni hier ausdrücklich ein.
Gerade an diesem schönen 9. November ist es mir wichtig, daran zu erinnern, dass vor der Einheit die Freiheit war. Wir machen uns diese politische Erfahrung als etwas besonders Kostbares bewusst, eben weil diese Nation eine so lange Tradition der Unterdrückung hat: fürstlich, absolutistisch, kaiserlich, diktatorisch.
Ebenso vielfältig war die politische Ohnmacht der Untertanen. Wie spärlich ist in dieser Nation die Tradition von Selbstbestimmung und Freiheitsrevolution! Tatsächlich haben die Ostdeutschen mit ihrer – freilich kurzen – Revolution nicht nur sich selbst, sondern allen Deutschen ein historisches Geschenk gemacht. Wir alle gehören nun zur Familie der Völker, die auf Freiheitsrevolutionen verweisen können, und haben für unsere niederländischen, französischen, polnischen und tschechischen Nachbarn ein besseres, vertrauenswürdigeres Gesicht.
Das, liebe Landsleute im Westen, ist das Geschenk der Ostdeutschen an euch. Gerade angesichts unserer sechsundfünfzigjährigen politischen Ohnmacht in Nationalsozialismus und Herrschaftskommunismus erstrahlt der Mut der Widerständigen von 1989 umso heller. Trotz aller Erblasten der Diktaturen können wir euch im Westen nunmehr auf Augenhöhe begegnen – zwar ärmer, aber nicht als Gebrochene und ganz bestimmt nicht als Bettler.
Aber gleichzeitig, liebe Landsleute im Osten, gibt es auch ein Geschenk der Westdeutschen an uns; es ist nicht in erster Linie materiell. Aus Naziuntertanen und Nostalgikern der Nachkriegszeit sind Demokraten geworden, wohl auch weil die Generation der Söhne und Töchter 1968 so unbequem nach Schuld und Verantwortung fragte. Eine zivile Gesellschaft ist entstanden. Mit der Einheit haben auch wir Anteil an diesen Erfahrungen. Vierzig Jahre Freiheit und Demokratie und Frieden hatte die deutsche Nation in ihrer Geschichte bis dahin noch nicht erlebt.
Die Menschen dieser Nation haben sich also gegenseitig beschenkt. Hoffentlich können wir, wenn wir uns in zehn Jahren erneut hier treffen, dieses Geschenk bewusster und freudiger annehmen.
12 Rede anlässlich der Sonderveranstaltung »Zehnter Jahrestag des Mauerfalls«. Text unter http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/gorbatschow/gauck.html (abgerufen am 18. Juli 2013).
Staatssicherheit:
Aufarbeiten – aber wie?
Die friedliche Revolution und das
deutsche Modell von 1990
Hannover, Oktober 2000 20
Es ist mir eine Freude, dass ich zu Ihnen im Rahmen der Hannah-Arendt-Tage sprechen kann. Ich möchte zunächst eine kurze Vorbemerkung machen:
Ich habe kürzlich das Buch Mauerblume der Ost-Berliner Autorin Rita Kuczynski gelesen. In diesem Buch fragt sich die ausgebildete Philosophin, die über Hegel promoviert hat, wie es eigentlich geschehen konnte, dass sie erst nach der sogenannten Wende, nach dem Umbruch in der DDR , Hannah Arendt entdeckt und dann ihre Schriften verschlungen hat. Und sie stellte verblüfft fest, dass bei Hannah Arendt bereits alles in seinem wissenschaftlichen Duktus abgehandelt wird, worüber sie selbst jahrelang intensiv nachgedacht hat. »Warum habe ich das nicht gelesen?«, so befragt die Autorin ihre eigene Vergangenheit.
Ich erwähne die Stelle dieses ungewöhnlichen Buches, weil ich glaube, dass im Osten ebenso
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