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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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gesehnt hat und der dann zum ersten Mal in seiner eigenen Stadt mit seinen eigenen ängstlichen Landsleuten auf die Straße geht: Ich bin da, ich finde meine Würde wieder, ich bin wertvoll, ich bin nicht länger Gefangener meiner ständigen Begleiterin Angst; ich kann aufstehen. In der Heiligen Schrift der Christen gibt es eine wunderbare Geschichte: Ein Gelähmter wird zu Jesus gebracht; der schaut dem Kranken in die Augen und spricht ihm in seine Seele: »Steh auf, nimm dein Bett und wandle!«
    Die Herbstrevolutionäre von 1989 wissen, was dieser Text im Politischen bedeutet. Als sie durch den Atem der Freiheit ermutigt waren, konnten sie im frühen Dezember die Zwingburgen der Geheimpolizei besetzen und der allmächtigen Partei ihre Macht aberkennen – ein Traum vom Leben. Und ganz unerwartet wirklich. Ganz sicher haben wir dabei von den Erfahrungen der Polen gezehrt – der Herr Präsident des Hauses hat daran erinnert –, die zehn Jahre vor uns aufgestanden waren, weit mehr riskiert und schließlich gewonnen hatten. Ich freue mich besonders über die Anwesenheit von zwei Außenministern des neuen Polen, Herrn Professor Skubiszewski und Herrn Professor Geremek.
    Liebe Landsleute und Gäste, wir alle haben gemerkt, dass die Deutschen in diesen Tagen nicht unbeschwert feiern. Manchmal gibt es gerade bei denen, die damals aktiv waren, Trauer und Wehmut, weil sie auch etwas verloren haben, nämlich die Aufbruchstimmung dieser so hektischen Zeit des heißen Herbstes 1989. Dieses Laboratorium der Politik, das damals entstand, hatte etwas sehr Lebendiges und Anrührendes: Basisgruppen in den Städten. Recht, Verfassung, Bildung, Kultur, Wahlrecht, Verwaltung, Justiz – alles sollte neu erfunden werden. Überall Aktivität der Inaktiven und Engagement der lange Entmündigten. Da mochtet ihr vom Westen lange ulken: Freunde, das Rad ist doch schon erfunden, mochtet »rührend« finden, was sich unter uns vollzog. Es war aber traumhaft für jeden, der mittat, und riss selbst viele SED -Genossen mit. Ich sagte es schon: Es war ein Traum vom Leben und ganz wirklich!
    Wenn wir aber aus der nostalgischen Rückschau über den Verlust dieses Zustandes heraustreten, erkennen wir zweierlei. Einmal etwas Vergängliches: Der schöne Frühling währt auch in der Politik nicht lange. Und etwas Bleibendes: Nicht in dem, was in dieser Zeit in den Bewegungen und Basisgruppen erfunden wurde, lag das Neue; das Neue waren der Anspruch und die Haltungen derer, die in der Regel zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv wurden, als wir damals anknüpften an jene Tradition von Aufbegehrenden, die einst in Frankreich liberté, égalité, fraternité gefordert und sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten selbstbewusst zum Souverän erhoben hatten mit dem Satz: »We, the People …« Wir waren nicht länger Objekt der Politik, sondern begannen selber zu gestalten. Wir ermächtigten uns, indem wir an unsere neue Rolle glaubten und sie annahmen. Manche lernten dabei, Bürgermeister zu sein, andere Abgeordnete und einige gar Minister. Laienspieler wurden diese ersten Aktiven von Beobachtern aus dem Westen, liebe Bayern, und aus dem Osten, liebe Berliner, gerne genannt. Wer damals mittat, weiß: Ein schönes Laienspiel war das.
    Hätte es doch länger gedauert, dass die Laien in der Politik mitspielten, und, so setzen wir hinzu, käme es doch auch jetzt häufiger vor, dass ganz normale Mitbürger mitspielen! Die Zeit, die uns damals blieb, um zu experimentieren und die eigenen Kräfte zu erproben, war im Unterschied zu der unserer Nachbarländer in Mittelosteuropa außerordentlich kurz. Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.
    Befreiung war also der erste Schritt. Der Wunsch nach Einheit stand in der ersten Zeit nicht im Vordergrund, und gerade die Bürgerrechtler waren spät dran mit dieser Erkenntnis. Es waren Intuition und Ungeduld des Volkes, die aus dem »Wir sind das Volk!« das »Wir sind ein Volk!« machten. Der erste Satz hatte uns die Würde zurückgegeben. Der zweite ließ nicht nur die lange verschüttete Sehnsucht nach der Einheit der Nation aller Deutschen wieder aufleben, er gab uns den Realismus, die Weisheit des nächsten Schrittes: Nicht eine neu zu erfindende Demokratie war die Hoffnung der Massen, sondern

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