Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
weniger abzuwerten Aber ich habe gelernt, denen zutiefst zu misstrauen, die das Ziel der Politik zu kennen glauben – mitunter sogar das letzte. Gleichermaßen simpel ist, die Gesellschaftsform der parlamentarischen Demokratie einfach als ausbeuterischen Kapitalismus zu denunzieren. Sie lädt uns vielmehr ein, in einer erkennbaren Weise für die Verbesserung des Gemeinwesens zu arbeiten.
Wenn ich die Demokratie so lobe, dann gewiss nicht deshalb, weil ich zu denen gehöre, die sie verherrlichen. Ich kenne das Ziel der parlamentarischen Demokratie nicht, ich kenne nur einen glaubwürdigen Weg. Für mich müssen auf diesem Weg folgende Dinge gewährleistet sein: die Menschen- und Grundrechte, eine tatsächliche Möglichkeit der Partizipation – unabhängig davon, was wir glauben oder wie viel Geld wir haben. Darauf kommt es an: Wir haben keine perfekte Gesellschaft, sondern vielmehr eine offene Gesellschaft, in der wir verlieren und gewinnen können. Sie ist sogar so offen, dass mancher unter uns Schwierigkeiten damit hat. Wir wünschen uns manchmal eine höhere Autorität, die manchem Einhalt gebietet. Aber niemand ist über uns, der die Demokratie vor Schaden bewahrt, außer uns selbst. Und das ist gut so!
8 Auszug aus Joachim Gauck, »Die Entscheidung fiel für ein erprobtes Politikmodell«, in: Eckhard Jesse (Hg.), Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Ch. Links Verlag, Berlin 2000, S. 241–252.
9 Gemeint ist Helmut Kohl.
10 Christine Lucyga war für die SPD von März bis Oktober 1990 in der Volkskammer der DDR, anschließend bis 2005 Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sie wurde jeweils als Direktkandidatin gewählt.
11 Freya Klier erhielt aufgrund ihres Engagements in der Friedensbewegung 1985 Berufsverbot, 1988 wurde sie zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Stephan Krawczyk aus der DDR abgeschoben.
Zehnter Jahrestag des Mauerfalls
Rede vor dem Deutschen Bundestag in Berlin, 9. November 1999 12
Sehr geehrter Herr Präsident des Deutschen Bundestages!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Hochverehrter Herr Bush!
Hochverehrter Herr Gorbatschow!
Sehr verehrter Herr Dr. Kohl!
Meine Damen und Herren! Liebe Freunde!
Während ich Sie, George Bush, begrüße, schaut über Ihre Schultern Martin Luther King, von dem wir hier im Osten 1989 gelernt haben, ohne Gewalt mächtig zu werden. Während ich Sie, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, anspreche und begrüße, schaut Ihnen Andrej Sacharow über die Schulter mit seiner Fähigkeit, Denken und Widerstehen zusammenzubringen.
Und dem Deutschen Bundestag schauen in dieser Stunde andere Menschen über die Schulter – vom »Neuen Forum« Bärbel Bohley und Jens Reich, Dietlind Glüer aus Rostock, Heidi Bohley aus Halle und Martin Böttcher aus Sachsen, von der SPD Martin Gutzeit und Markus Meckel, die diese alte Partei hier neu gründeten, von »Demokratie Jetzt«, dem »Demokratischen Aufbruch« und der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« Rainer Eppelmann, Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß, Wolfgang Templin, Gerd und Ulrike Poppe, Marianne Birthler. Wie viele wären noch zu nennen!
Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer danken wir auch den Politikern, die daran mitgewirkt haben. Ich möchte Helmut Kohl, George Bush und Michail Gorbatschow auch ein ganz spezielles persönliches Dankeswort sagen. Aber mein Dank gilt vor allem jenen Akteuren, die den Regierenden in der DDR so viel Druck machten, dass deren Mauern nicht mehr standhielten: den vielen Unbekannten in Plauen, Potsdam, Guben, Görlitz, Arnstadt, Erfurt, Halle, Magdeburg, Leipzig, Dresden, Schwerin, Neubrandenburg, Greifswald, Bautzen und auch in Berlin. Ich kann und will nicht alle Akteure von einst vertreten; zu vielgestaltig war das Spektrum. Aber als einer von ihnen, der 1989 in Rostock aktiv war, möchte ich an sie alle erinnern – mit großem Ernst und tiefem Dank. Ohne sie hätte sich unser Land nicht verändert und nicht geöffnet.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht hat die Angst dieser Menschen schrittweise besiegt. Beim Gorbatschow-Besuch Anfang Oktober konnte man in Berlin und anderswo noch die Rufe hören: »Gorbi, hilf!« – Appelle derer, die sich nur vorstellen konnten, dass Hilfe von oben kommen müsse. Aber schon kurz danach riefen oft dieselben Menschen: »Wir sind das Volk!« So sprachen schon Bürger, jedenfalls solche, die Bürger werden wollten. Es ist unbeschreiblich, was in einem Menschen vorgeht, der sich sein ganzes Leben lang nach Freiheit
Weitere Kostenlose Bücher