Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
willfährigen und unterstützenden Staatsbürger mimten. Erinnern wir uns: Am Stellplatz mussten wir lange warten. Erstens wären wir lieber ins Grüne gefahren, wussten – zweitens – aber nicht, ob wir uns das trauen könnten. Deshalb sind wir – drittens – lieber zur Demonstration gegangen. Dort hofften wir, dass wir nicht das Transparent oder die Fahne tragen müssten. Wenn dieser Kelch noch einmal an uns vorübergegangen war, zogen wir halt mit – wie (fast) alle. Wir schimpften, murrten, machten unsere Witze. Ungefähr fünf Meter vor der Tribüne hörten die Witze auf, die Unterstützer und die Kritiker schauten freundlich, manche winkten sogar. Fünf Meter hinter der Tribüne gingen das Fluchen und das Schimpfen wieder los. Bald traf man sich in der nächsten Kneipe. Hinterher wurde schließlich nicht mehr gezählt.
Erst im Herbst 1989 sind viele von uns aufgewacht. Gefühle kamen zu uns zurück. In den wöchentlichen Gottesdiensten wurde gelacht und geweint, auch mal richtig geschimpft. Es gab eine Befreiung des Gefühlshaushaltes, den wir sorgsam eingehegt hatten. Wir wurden auf überraschende Weise lebendig. Mir ist es wichtig, dass wir uns an diese Zeit des Aufwachens erinnern, weil wir die Energie dieses Aufwachens sehr früh verloren haben. Das Erwachen von Bürgersinn und Zivilcourage, das »Zurückmelden« werde ich immer für die beste Zeit meines Lebens halten.
Nach 1989/90 sah ich die Entwicklung etwas optimistischer als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl. Er ging im November 1989 von einem Zeitraum von zehn Jahren bis zur Einheit aus. Ich habe gedacht: In acht Jahren haben wir die Einheit, in zwei Jahren Westgeld. Als ich im Frühjahr 1990 Abgeordneter der ersten frei gewählten DDR -Volkskammer wurde, war ich mir dieses Zeitplans nicht mehr so sicher, obwohl ich immer noch nicht die Beschleunigung des Einheitsprozesses ahnte. Ich war damals im Sprecherrat des »Neuen Forums«. Wir hatten unendlich viele Basisgruppen für die verschiedenen Gebiete eingerichtet: zum Beispiel für Recht, Schule, Kultur, Verfassung. Es war ein Laboratorium für Politik.
Natürlich haben wir nur an die DDR gedacht, wir wollten Reformen für unser Land: Bürger- und Menschenrechte, uralte Politikforderungen, die im Kern bereits in der Magna Charta enthalten, bei uns aber nicht umgesetzt waren. Wir wollten Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz, wir wollten nicht eingesperrt sein. Die jüngeren Menschen unter uns sagten: Der Sozialismus ist im Kern eine gute Sache. Er gehöre nur korrigiert und verbessert. Das hörte sich gut an. So eine Reich-Gottes-Vision mit Gerechtigkeit: »Wir sind für Freiheit und Sozialismus!« Doch wie sollte ein »dritter Weg« aussehen? Alternative Studenten, Linksgrüne und Neomarxisten behaupteten, sie hätten ein derartiges Konzept. Aber bei näherem Hinsehen fehlte den Bürgerrechtsgruppen eine tragfähige Vorstellung von einer nichtkapitalistischen Ordnung mit einer funktionierenden Wirtschaft. Gewiss: Die Chinesen sind dabei, eines zu erfinden. Aber warten wir ab. Wir hatten dieses Konzept jedenfalls nicht. Wir kannten hingegen die Anekdote: Was passiert, wenn zehn DDR -Ökonomen nach Ägypten zur Wirtschaftshilfe geschickt werden? Antwort: Zehn Jahre passiert nichts, im elften wird der Sand knapp …
Relativ früh schon hielt ich den dritten Weg für aussichtslos – und nicht nur ich. Wir waren »nicht links oder rechts, sondern geradeaus«. Das »Neue Forum« in Rostock war stark von Leuten aus der Produktion und von Krankenschwestern geprägt. Ihm gehörten eben nicht nur – theorielastige – Intellektuelle aus der Studenten- und Künstlerszene wie in Berlin an. Die Jungs und Mädels aus der Produktion fragten vielmehr: »Wie funktioniert das?« Als wir ihnen die Fragen zur Wirtschaftsordnung nicht konkret beantworten konnten, erklärten sie: »Probiert das mit dem dritten Weg im Saarland und in Ostfriesland aus. Aber uns lasst damit bitte in Ruhe.«
Zudem setzte jetzt eine andere Dynamik ein. Am 9. November fiel die Mauer. Und es war eine unglaubliche politische Entwicklung, dass im selben Raum der Politik, in dem wenige Wochen zuvor noch »Wir sind das Volk!« formuliert worden war, jetzt ein Schritt hin zur Wiedervereinigung erfolgte mit: »Wir sind ein Volk!«; dass »Helmut« 9 gerufen und die bundesdeutsche Fahne gezeigt wurde.
Viele Linke erkannten darin nationalistische, wenn nicht »braune« Ansätze. Das stimmte nicht. Die Entscheidung fiel vielmehr
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