Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Nordholland erfasst hatte. Mit ungläubigem Staunen und großer Bewunderung habe ich gelesen, dass damals Geschäfte geschlossen blieben, Arbeiter in Werften und Fabriken die Arbeit niederlegten und Schüler dem Unterricht fernblieben, um dem Streikaufruf der illegalen Kommunistischen Partei der Niederlande zu folgen – aus Protest gegen die Verschleppung der ersten vierhundert Juden aus den Niederlanden in das Konzentrationslager Mauthausen.
Ich spürte, wie mich dieses Beispiel berührte. Einmal mehr begriff ich, dass solche Vorbilder doppelt wichtig sind. Einmal für die Völker, aus denen die Widerständigen stammen. Daneben auch für Menschen aus anderen Völkern, aus anderen Generationen, gegenüber anderen Herausforderungen und anderen Krisensituationen. Denn wir lernen aus den Zeiten von Krieg und Verfolgung, wozu die Spezies Mensch fähig ist – im Bösen wie auch im Guten.
Ich erinnere an den Verleger Emanuel Querido, der in Amsterdam ein eigenes Verlagshaus für verfolgte Exilschriftsteller aus Deutschland gründete. Bis die Gestapo seinen Besitz 1940 beschlagnahmte, brachte er hundertzehn deutschsprachige Bücher heraus. Querido wurde später im Versteck verraten und mit seiner Frau im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
Ich erinnere an Corrie ten Boom, die mit ihren Angehörigen anderthalb Jahre lang jüdische Familien in ihrem Haus versteckte. Auch sie wurde denunziert und kam ins Konzentrationslager Ravensbrück. Nach dem Krieg widmete sich Corrie ten Boom der Betreuung von Opfern des nationalsozialistischen Terrors und wandte sich dem Werk der Versöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern zu.
Wir rühmen diese Menschen, weil es so ganz und gar nicht selbstverständlich ist, das zu tun, was sie getan haben – allzu viele fügen sich in das scheinbar Unvermeidliche, sind unfähig zu Widerstand. Wir rühmen diese Menschen, weil sie uns Zugang zu einer Wahrheit schaffen, die wir uns beständig immer wieder bewusst machen sollten: Wir haben immer eine Wahl. In Zeiten von Krieg und Terror haben wir wahrlich nicht jede Wahl, aber selbst unter diesen Bedingungen können Menschen – wie die Geschichte lehrt – die menschliche Würde, das Humanum retten.
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch an Hans Keilson, dem in Deutschland geborenen Juden, der 1936 in den Niederlanden Zuflucht fand und sich nach 1940 dem Widerstand im Lande anschloss. Obwohl selbst äußerst gefährdet – seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet –, widmete er sich jüdischen Kindern, die in niederländischen Familien versteckt waren. Keilson wusste aufgrund seiner medizinischen und psychoanalytischen Kenntnisse, dass das Leid von Verfolgten nicht zu Ende ist, wenn die Verfolgung aufhört. Den Traumatisierten, vor allem jüdischen Kindern, widmete Keilson sein Leben als Mitmensch und als Therapeut auch lange Jahre nach dem Krieg. Er starb, über hundertjährig, vor genau einem Jahr in Hilversum.
Selten sind die Haltungen der Menschen allerdings so eindeutig wie bei erklärten Gegnern von Diktaturen, bei den Widerständlern. Und längst nicht in allen Familien sind Meinungen und Taten ungeteilt. Harry Mulisch hat einmal den verstörenden Satz formuliert: »Ich bin der Zweite Weltkrieg.« In dieses Bild fasste er die Tatsache, dass seine Eltern beides waren: Opfer und Täter. Die Mutter – eine Jüdin, der Vater – Verwalter von »arisiertem« Vermögen in einer Bank. Wegen der Stellung des Vaters konnten Harry Mulisch und seine Mutter überleben, wegen eben dieser Stellung aber wurde sein Vater nach dem Krieg als Kollaborateur bestraft.
Das Symbol des 4. und 5. Mai in den Niederlanden ist eine brennende Fackel, deren Flamme die Umrisse einer Taube hat. Dieses Feuer haben Sie heute Nacht in Wageningen entzündet, um es in das ganze Land und im Anschluss auch hierher, nach Breda, zu tragen.
Für die europäische Einigung in Frieden war das Feuer der Freiheit von Anfang an ein bestimmendes Element. Ihr Landsmann Hendrik Brugmans sagte dazu auf dem Kongress der Europäischen Bewegung im Mai 1948, Europa sei die Philosophie der Nichtangepassten, der Ort derjenigen, »die ständig mit sich selbst im Kampf liegen, wo keine Gewissheit als Wahrheit hingenommen wird, wenn sie nicht ständig von Neuem entdeckt wird. (…) Überall wird das Banner Europas das Banner der Freiheit sein.« – 1948!
Doch Freiheit will immer wieder neu errungen sein.
Die Stadt Breda ist dafür ein ganz hervorragender Gedenkort. Der
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