Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
unterscheiden gilt zwischen einem Vaterland, das einem am Herzen liegt, und einem Unrechtsregime. Dass Widerstandskämpfer keine Hoch- und Landesverräter sind. Dass Emigration nicht Feigheit bedeutet und Fahnenflucht nicht unentschuldbar sein muss. Wir haben gelernt: Zu einer Regierung, die das Leben und die Würde der Menschen mit Füßen tritt, kann und darf es keine unverbrüchliche Treue geben. Gegen ein Unrechtsregime stehen wir vielmehr auf der Seite jener, die – wie Bundespräsident Theodor Heuss es 1954 schon sagte – den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und das Vaterland vor der Vernichtung zu retten versuchen.
Gerade weil wir Deutsche uns der Last und der Schuld der Geschichte gestellt haben, gilt für uns und gilt besonders auch für mich: Wir feiern gemeinsam mit allen Befreiten die Befreiung vom nationalsozialistischen Joch, wir feiern mit allen, die damals ihre Unabhängigkeit und Freiheit wiedererlangten. Und wir fühlen mit allen, die gerade heute in allen Teilen der Welt die Freiheit entdecken oder auch wiederentdecken.
Deutschland und die Niederlande sind nicht nur Partner in der Europäischen Union oder in der NATO – wir sind trotz des Leids, das Nazideutschland auch über Ihr Land gebracht hat, Teile eines großen Projekts geworden, das Nationen über Grenzen und Traditionen hinweg zu einem gemeinsamen Ganzen zusammengefügt hat. Teile eines Projekts, in dem die Völker nicht mehr gegeneinander aufgebracht werden, sondern in gegenseitiger Achtung der Menschenrechte vereint sein sollen und vereint sind. Es ist das Ja zur Freiheit, das einst Ihre niederländische Nation schuf, dieses Ja ist heute die Grundlage unserer Gemeinschaft. Durch dieses Ja zur Freiheit sind wir übrigens viel tiefer verbunden als durch alle Verträge, die uns binden.
Verbunden fühlen wir uns aber auch in der Trauer, wenn wir wie heute in Breda der mehr als hunderttausend niederländischen Juden gedenken, die der Ausrottungspolitik Hitler-Deutschlands zum Opfer fielen. Erst waren ja die Niederlande Zufluchtsort für viele Juden aus meiner deutschen Heimat geworden, darunter auch für Anne Frank und ihre Eltern. Doch dann erfolgten die Deportationen – drei Viertel der in den Niederlanden lebenden Juden wurden in Vernichtungs- und Konzentrationslagern ermordet oder starben an Misshandlungen, an Hunger und Krankheiten.
Ich denke auch an Widerstandskämpfer wie Max Kohnstamm, den späteren Verfechter der europäischen Einigung, der unweit von hier im Gefängnis von Haaren gefangen gehalten wurde. Ich denke an die Sinti und Roma, deren Schicksal Zoni Weisz in seiner Rede im vergangenen Jahr vor dem Deutschen Bundestag in so bewegenden Worten schilderte. Ich denke nicht zuletzt an Hunderttausende Niederländer, die zum Arbeitseinsatz nach Deutschland deportiert wurden. An so viele, die Hunger, Zwangsevakuierungen und den Verlust der Heimat erleiden mussten; aber auch an jene, vor allem im damaligen Niederländisch-Indien, für die der Krieg am 5. Mai weiterging. Leiden und Sterben waren für sie noch nicht zu Ende.
Wenn wir uns jetzt, nach siebenundsechzig Jahren, an das Kriegsende erinnern, sollen aber nicht nur Schandtaten und Verbrechen wie etwa die Bombardierung von Rotterdam in unser Bewusstsein dringen. Auch an die Taten des Ungehorsams, der Sabotage, des militärischen und zivilen Widerstands gilt es zu erinnern.
In Breda gedenken Sie des polnischen Generals Stanisław Maczek, dem die Befreiung der Stadt ohne Verluste unter der Zivilbevölkerung gelang. Diese Befreiung mag heute stellvertretend stehen für die Befreiung aller von Hitler unterjochten Staaten Europas und für Deutschland selbst. General Maczek hatte seit den ersten Kriegstagen gegen die Okkupanten gekämpft – erst in Polen, später in Frankreich, 1944 nahm er an der Invasion in der Normandie teil. Die Stadt Breda erklärte diesen Kriegshelden zum Ehrenbürger und gab ihm auf dem Kriegsgräberfriedhof eine würdige letzte Ruhestätte.
Unsere Erinnerung sucht Vorbilder wie ihn, die uns eine Richtung für unser eigenes Leben geben können, sucht Menschen wie Bernard Ijzerdraat, der nach dem deutschen Bombardement von Rotterdam die erste oppositionelle Gruppe gründete und nach einem Schauprozess in Scheveningen erschossen wurde – zusammen mit siebzehn anderen Verurteilten, darunter drei Kommunisten, die den Februarstreik 1941 organisiert hatten.
Ich bekenne es: Vor dieser Reise wusste ich nichts von diesem Generalstreik, der ganz
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