Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
»Kompromiss von Breda«, in dem sich im Jahr 1566 Edelleute gegen die Inquisition aussprachen, stand am Beginn des Aufstands gegen die spanische Herrschaft. Der spätere Bund der Geusen zeigte den europäischen Nachbarn, welche Kräfte und welche Freiheitsliebe in uns wachsen können.
Wir sehen: Bevor die Freiheit gesellschaftliche Wirklichkeit werden kann, gewinnt sie die Herzen und Köpfe von Einzelnen und von kleinen Gruppen. Was spät alle ergreift, wird früh von wenigen geboren. Vor der freien Gesellschaft kommen freie Individuen, vor den freien Staaten freie Städte.
Die Vereinigten Niederlande des 17. Jahrhunderts prägten unsere Vorstellungen von einer freiheitlichen, auch föderalistischen und toleranten Republik. Hier war der Bürger Bundesgenosse und nicht Untertan. Freigeister wie Spinoza und Descartes konnten sich entfalten, verschiedene Glaubensrichtungen sich nebeneinander entwickeln. Hugo Grotius, der auf der Rückreise von Schweden in meiner Heimatstadt Rostock verstarb, formulierte die Idee des mare liberum , des freien Meeres, die Grundlage des modernen Seevölkerrechts wurde.
Den »Schritt zur Mündigkeit«, von dem Immanuel Kant sprach, haben die Niederländer in Europa besonders früh getan. Ganz Europa sollte Ihnen dafür dankbar sein! Auch das machte den Deutschen übrigens im 19. Jahrhundert Mut, sich der damals entstehenden Freiheitsbewegung anzuschließen. Und obwohl die Revolution von 1848/49 in den deutschen Ländern scheiterte: Die Ideen überlebten ja. Das Hambacher Schloss in der Pfalz, die Frankfurter Paulskirche und andere Orte der Freiheit künden in meinem Heimatland vom Freiheitswillen der Deutschen.
In unserem gemeinsamen Europa ist es keine innere Angelegenheit der einzelnen Staaten mehr, wenn Länder Freiheiten beschneiden und die Grundrechte der Bürger missachten. Wir können stolz sein, dass sich die Bürger fast aller europäischen Staaten an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden und eine mögliche Verletzung ihrer individuellen Grund- und Menschenrechte dort überprüfen lassen können.
Wir können stolz sein, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskriege vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Anklage kommen können. Straflosigkeit darf für die Täter keine Hoffnung sein. Der Weg ist zwar mühsam und auch langwierig, doch unser Ziel steht fest: Die Stärke des Rechts muss weltweit über das Recht des Stärkeren siegen.
Deutsche und Niederländer wissen nicht zuletzt durch gemeinsame militärische Einsätze in Afghanistan oder im Kosovo, wie langwierig dieser Weg ist und mit welchen Opfern er verbunden sein kann. Dennoch: Wenn heute Verletzungen der individuellen Menschenrechte überall auf der Welt verurteilt und in vielen Fällen auch geahndet werden, wenn Menschen Hilfe erfahren auf dem Weg zu mehr Autonomie, mehr Achtung und mehr Selbstachtung, dann ist das ein Wert an sich.
An Tagen wie diesen wird uns bewusst, wie weit Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nach langen Kämpfen zum herrschenden Prinzip der europäischen Gesellschaftsordnung geworden sind. Es gibt große Teile der Welt, in denen die Menschen von unseren Rechten nur träumen können. Im Norden Afrikas und im Nahen Osten hat sich die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Menschenrechten in den letzten Jahren Bahn gebrochen. Viele von uns haben staunend wie auf etwas gänzlich Unmögliches geschaut. Diese Bewegungen zeigen uns: Freiheit und Menschenrechte sind keine Erfindung eines imperialen Westens.
Menschenrechte sind universell, ihre Sprache wird überall verstanden – jedenfalls von den Unterdrückten: in Asien wie in Europa, in Amerika wie in Afrika. Weltweit erwachen Menschen und fordern ihre Rechte ein – selbst dann, wenn noch nicht Tausende auf der Straße sind wie damals bei uns in Ostdeutschland.
Doch während andere Völker vom Geist der Freiheit beflügelt werden, können viele Menschen in Europa den Segen der Freiheit nur sehr begrenzt erfassen. Sie missverstehen die Freiheit als Libertinage, als das Versprechen auf ein hedonistisches Lebensmodell, als die politische oder ethische Beliebigkeit oder gar als Aufforderung zum Verzicht auf Mitgestaltung. Bei diesem Freiheitsverständnis fehlt, was besonders viele junge Menschen auf die Straßen und zum Protest treibt – es fehlen Verantwortlichkeit, Verlässlichkeit, auch Gemeinsinn und Solidarität.
Wir sehen: Freiheit will nicht nur immer wieder neu
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