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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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heute keine Antwort, über vierzig Jahre danach. Ich weiß nur, dass dann eine Entscheidung hätte fallen müssen, die zu treffen mir allein durch zufällige Umstände erspart blieb.«
    Es gibt bis heute keine endgültigen Antworten auf die Frage, wer zu welcher Hilfe imstande ist. Wer sogar bereit ist, sein eigenes Leben zu opfern, um andere – vielleicht – zu retten.
    Raul Hilberg schrieb: »Es gab zwei Arten von Hilfe. Zum einen die gelegentliche, die im Vorbeigehen erfolgte. Die anderen Helfer handelten entweder aus Opposition, aus reiner Sympathie oder aus dem Gefühl, eine humanitäre Pflicht zu erfüllen. Über die humanitären Helfer ist viel geschrieben worden. Man nannte sie Altruisten, gerechte Nichtjuden, barmherzige Samariter. Aber äußerlich gesehen hatten sie wenig gemeinsam. Es waren Männer und Frauen, ältere oder jüngere, reichere oder ärmere Leute. Wie die Täter, deren Gegenteil sie waren, konnten sie ihre Motive nicht erklären. Sie nannten ihr Handeln normal oder natürlich. Und nach dem Krieg fühlten manche sich durch die öffentliche Lobpreisung peinlich berührt.«
    Zeugnis ablegen und helfen, das spricht sich einfach aus. Aber es gibt Zeiten, da werden diese Tugenden so selten, dass sie wie etwas Kostbares gerühmt werden müssen. Doch wenn wir von Zeugenschaft und von der Hingabe an das Gemeinwesen, von der Liebe zur Freiheit, von der Opferbereitschaft für Verfolgte schweigen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn derartige Eigenschaften eines Tages nicht mehr zu den Tugenden zählen.
    Eingangs sprach ich davon, dass wir Beauftragte sind. Wir werden gebraucht, und alles wird gebraucht, was aus Untertanen Bürger macht. Das Trainieren von Haltungen wie die Gewinnung neuer oder ganz alter Wissens- oder Glaubensgüter etwa darüber, dass unser Gemeinwesen mehr braucht als unsere räuberische oder hedonistische Annäherung. Es braucht eine Geneigtheit seiner Bewohner, für die der französische Schriftsteller Montesquieu sogar den Begriff Liebe verwandte. Als Deutscher und Kind dieses Jahrhunderts denkt man natürlich sofort an die Fülle missbrauchter Gefühle – die Liebe zur Scholle, Heimat, Nation, zum Thron und zum Führer – und hört weg. Aber wir sollten die alte Begrifflichkeit vielleicht neu buchstabieren. Es könnte ja sein, dass wir auf eine innere Wahrheit stoßen, die wir dringend brauchen.
    Wer von Menschen beauftragt ist, die sogar in der Diktatur daran festgehalten haben, dass sie entscheidungsfähig blieben, der wird sich einer Sorge nicht verschließen können: dass unsere Demokratie möglicherweise durch dieselbe Haltung zugrunde gehen könnte, die die Diktatur so lange am Leben erhalten hat, nämlich durch unser unkritisches, unengagiertes Danebenstehen.
    47 Auszug aus Joachim Gauck, »Von Zeugenschaft, Verweigerung und Widerstand – Anmerkungen zum Leben unter totalitärer Herrschaft«, Festrede zum 20. Juli 1996 auf Einladung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Redemanuskript.
    48 Von Hassell selbst beteiligte sich allerdings an Plänen zum Putsch gegen Hitler. Er wurde Ende Juli 1944 verhaftet, zum Tode verurteilt und gehenkt.

Befreiung feiern – Verantwortung leben
    Breda, 5. Mai 2012, Rede zum Nationalen Befreiungstag der Niederlande. Es ist die erste Festansprache eines deutschen Bundespräsidenten zu diesem Anlass. 49
    Vor Ihnen steht ein dankbarer Mann, bewegt und voller Freude darüber, dass das Nationalkomitee 4. und 5. Mai den deutschen Bundespräsidenten gebeten hat, in Breda zu sprechen.
    Ich bin im Jahre 1940 geboren, dem Jahr, in dem die Niederlande Opfer deutscher Großmachtpolitik und deutschen Rassenwahns geworden sind. Es ist für einen Deutschen – und ganz gewiss für mich – nicht selbstverständlich, dass ich heute hier vor Ihnen stehen und zu Ihnen sprechen darf. Das Nationalkomitee hat meinem Land und mir persönlich mit dieser Einladung großes Vertrauen entgegengebracht – es ist ein Geschenk, ich nehme es demütig und dankbar an, und ich werde es nicht vergessen. In meiner Dankbarkeit enthalten ist auch die Freude darüber, dass unsere Länder seit Jahrzehnten Partner sind – den Menschenrechten verpflichtet, der Freiheit und der Demokratie.
    Ich gehöre zu einer Generation von Deutschen, die meist erst unter Schmerzen gelernt hat, dass der alte Spruch Right or wron g – my country nicht mehr unbedingt gelten kann. Wir mussten lernen, dass es zu

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