Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
und Sieg oder im Sterben und in der Niederlage ihre Würde zurück. Doch wie wichtig ist es gerade auch für uns, an jene Deutschen zu denken, denen Freiheit und Würde höhere Werte waren als die Sicherung des Überlebens.
    Ich denke an Alfred Andersch, der 1944 an der Arno-Front in Italien desertierte. Später erinnerte er sich: Mein ganz kleiner, privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni (dem Tag der Desertion) statt. Er kam davon. Doch wäre er erwischt worden, hätte er für die Desertion mit dem Leben bezahlt.
    Ich denke an Friedrich Hanselmann, den Bauern aus dem Dorf Brettheim, der in den letzten Kriegstagen 1945 die HJ-Mitglieder entwaffnete und die Waffen im See versenkte. Wegen Wehrkraftzersetzung wurde er zum Tode verurteilt und erhängt. Mit ihm starben der Bürgermeister und der örtliche Naziführer, weil sie sich geweigert hatten, Hanselmanns Todesurteil zu unterschreiben.
    Ich denke auch an eine Französin, die wir kennenlernen, wenn wir in Lyon im »Centre de la Déportation« in einer Glasvitrine die Gestapo-Meldung aus Paris über ihr Vergehen lesen. Sie hatte sich den gelben Stern an der Bluse befestigt, um damit gegen die Behandlung der Juden zu protestieren.
    Es mag von unserem Menschenbild abhängen, wie wir die Frage beantworten, ob man Zivilcourage lehren und lernen kann. Wer sich versammelt, um an Claus Schenk Graf von Stauffenberg und an seinen Bruder Berthold, an Carl Goerdeler, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, an all die anderen Väter und Mütter eines freieren besseren Deutschlands zu denken, der mag tausendmal Ja sagen auf die gestellte Frage. Vielleicht wird aber auch er sich nicht völlig frei machen können von der Skepsis der Zeit und den Zweifeln, dass man aus der Geschichte lernen kann.
    Was konnte man denn tun?, fragten alle, die zu wenig versucht hatten, nach dem Ende einer Diktatur und erwarteten die verständnisvolle Antwort: Nichts. Aber nicht nur die Märtyrer lehren uns, dass dies nicht richtig ist, sondern die einfachen Neinsager unter den Jasagern und die Menschen, die Zeugnis ablegten, weil sie nicht anders konnten.
    Schon Zeugenschaft erfordert oft Mut, und »nur aus einer mächtigen Gefühlsaufwallung« – so der polnische Schriftsteller Czesław Miłosz – und dem festen Glauben an das ehrenwerte Ziel würde jene Entschlossenheit geboren, »die unsere Kleinmütigkeit überwindet«.
    Der deutsche Fotograf und Wehrmachtsoldat Joe Heydecker, dem wir die Fotos aus dem Warschauer Getto verdanken, wünschte sich manchmal, nie als Zeuge herausgefordert worden zu sein. Mehr noch als die Möglichkeit, entdeckt und vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden, fürchtete er allerdings die Schrecken der Wirklichkeit.
    »Die Wahrheit war rings um mich, in den tausend elenden Menschen, die im Halbdunkel der Straßen kaum zu unterscheiden waren. Ich war mitten in einem entsetzlichen Geheimnis der deutschen Reichsmaschinerie. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, der ich gegenübertreten musste. Aber ich wollte die Wahrheit wissen.«
    Heydecker fotografiert, er findet Helfer unter den Kameraden, die die Fotos herausschmuggeln. Er folgt seinem ganz individuellen »Auftrag«, obwohl die Wahrheit in seinem Fall keine befreiende Wirkung hat.
    »Meine Schuld ist«, so Joe Heydecker, »dass ich sah, dabeistand und fotografierte, statt zu handeln. Schon damals fühlte ich dieses furchtbare, undurchdringliche Problem. Feige die Frage: Was hätte ich tun können? Etwas. Mit dem Seitengewehr einen der Posten niederstechen. Den Karabiner gegen Vorgesetzte richten. Überlaufen und auf der anderen Seite kämpfen. Den Dienst verweigern. Sabotage treiben. Befehlen nicht gehorchen. Den Tod hinnehmen. Niemand, so sehe ich es heute, kann uns davon absolvieren.«
    So blieb Schuldbewusstsein, weil er nicht den eigenen Tod riskierte, um den Tod von anderen zu verhindern. Und es blieb Schuldbewusstsein, weil er Erleichterung spürte, als er nicht zu heldenhafter Entscheidung aufgerufen war. Durch einen glücklichen Zufall gehörte Joe Heydecker im Juni 1941 nicht zu den Soldaten, die vom Kompaniechef beauftragt wurden, drei verwundete russische Gefangene zu erschießen.
    »Ich sah, wie die Kameraden auf die hilflosen Menschen, die dort im Gras hockten, anlegten. Ich hörte die Schüsse. Befehl ausgeführt. Ich höre sie noch, und immer mit der quälenden Frage, was ich getan haben würde, wenn der Finger des Kompaniechefs auf mich gedeutet hätte. Es ist an mir vorbeigegangen. Aber wenn? Wenn? Ich weiß auch

Weitere Kostenlose Bücher