Nicht ganz schlechte Menschen
mochte keine Jugendlichen. Da machten
selbst Max und Karl keine Ausnahme. Im Gegenteil, er mochte sie sogar noch
etwas weniger. Sie würden eines Tages seine Erben sein, ohne jemals irgendetwas
für ihn getan zu haben. Daß er nicht allzuviel zu vererben hatte, war eine
andere Sache. Ernst-Erich wartete auf den Tod, von dem er sich vergessen
fühlte. Sah belästigt eher als verbittert auf jenes folgenlose Nichts zurück,
das sein Leben gewesen war. Ein grotesker Haufen ausgesessener Zeit. Die jungen
Loewes verachteten ihn instinktiv, ohne genug über den Onkel zu wissen. Für ihr
Verdikt genügte der Umstand, daß er keine Spur von sich hinterlassen würde. Wer
in ihren Augen etwas gelten wollte, mußte mindestens einmal den Puls der Gegenwart
erhöht haben, mußte mindestens einmal das Risko eingegangen sein, die eigene
Existenz in die Waagschale zu werfen, auf doppelt oder nichts. Darauf konnten
sie sich, trotz aller Unterschiede, einigen.
Beide fanden es bewegend, die erste eigene Wohnung
auszusuchen, zu kaufen und zu beziehen. Leere Räume mit Teppichen und Tapeten
auszukleiden, mit Möbeln und Lampen, mit Kissen und Bettbezügen, mit Geschirr
und Besteck, mit Buchregalen, Schirmständern und Blumenvasen. Max fand bei
einem Trödler zwei Kuhfelle zum Sonderpreis, auf denen lag er gerne, wenn er
rauchte und nachdachte. Oder er verkroch sich zwischen den schwarzen und roten
Plüschkissen auf der wuchtigen viktorianischen Recamiere. Karl entschied sich
für eine kahle, streng funktionale Ästhetik des Notwendigsten. Klare Formen
ohne Zierat. Den vier Quadratmeter großen Schreibtisch aus Stahl und Glas, der
das Arbeitszimmer so herrlich transparent belassen hatte, tauschte er aber bald
gegen einen aus Holz ein, an dem man nicht das Gefühl bekam, sich die Unterarme
abzufrieren.
Die so unterschiedlich eingerichteten Wohnungen besaßen eine einzige
Gemeinsamkeit – nämlich je ein Exemplar des ersten europäischen in Serie
gefertigten Kühlschranks der deutschen Kühl-und-Kraftmaschinen-GmbH.
Karl kam mit dem ›roten‹ Wedding, der so rot gar nicht
mehr war (dank des obsessiven Engagements von Dr. Joseph Goebbels waren bereits
ganze Straßenzüge bräunlich verfärbt), wenig zurecht. Der Wedding war in weiten
Teilen viel eher ein grauer und vor allem im Winter deprimierender Stadtteil.
Hier hatte Karl sich unter die Arbeiter mischen, sie studieren und auf
politische Versammlungen gehen wollen. Doch die meisten Arbeiter besaßen eine
Nase für den jungen Mann aus gutbürgerlichem Hause, der ganz alleine
zweieinhalb saubere, helle Zimmer bewohnte, sie reagierten mißtrauisch und oft
berlinisch derb, machten sich über ihn lustig, er fand keine Freunde für seine
Seele – und politische Versammlungen zu besuchen, das mußte er am eigenen Leib
erfahren, war gefährlich. Bei seinem ersten Versuch geriet er prompt in eine
wilde Saalschlacht, etwa fünfzig SA -Männer
überfielen die Veranstaltung, skandierten Parolen, randalierten mit
Schlagstöcken, die Polizei griff mit zwei Hundertschaften ein, die prügelten,
politisch vorbildlich neutral, jeden nieder, der ihren Weg kreuzte, ob von
links oder rechts, einerlei. Sogar Schüsse fielen und es gab mehrere Verletzte
zu beklagen. Karl zog sich geschockt in seine Wohnung zurück.
Politisch motivierte Morde waren im Norden Berlins keine Seltenheit.
Noch vor wenigen Monaten hatte, gleich eine Straße weiter, ein SA -Mann eine 37-jährige Frau auf offener Straße
erstochen, einfach nur, weil er sie ihrem Erscheinungsbild nach für eine
Kommunistin hielt. Karl vertiefte sich fortan um so lieber in die Lektüre
marxistisch-ökonomischer Literatur. Für unüberschaubare und nervenzerfetzende
Straßenkämpfe war ihm sein junges Gehirn denn doch zu wertvoll – und ein
Raufbold war er ohnehin nie gewesen, inzwischen tendierte er zum Pazifismus.
Beziehungsweise dazu, die vielleicht hier und da nötige Drecksarbeit anderen zu
überlassen, die durch Muskelkraft und Hemmungslosigkeit dazu viel eher
prädestiniert waren. Wie um sein Gewissen zu erleichtern, spendete er die
stolze Summe von fünfhundert Reichsmark, gebunden an ein Hilfsprogramm für
notleidende Proletarier, vulgo: eine Volkssuppenküche. Er zögerte noch, der KPD beizutreten. Die neu gegründete Sozialistische
Arbeiterpartei Deutschlands, die SAPD , eine linke
Abspaltung der SPD , schien ihm intellektuell
attraktiver, war aber von der Zahl ihrer Wähler her praktisch bedeutungslos. Er
dachte lange darüber nach.
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