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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Beobachter sprachlos. Manche sagten einen Bürgerkrieg voraus. Zu dem
es nicht kam. Und niemand konnte überzeugend erklären, warum sich kein
schlagkräftiger Widerstand zu organisieren wußte. Das Land war in einen
revolutionären Taumel geraten, und viele Faktoren spielten, wie von einem
Teufel kunstvoll jongliert, zusammen. Hindenburg, der schon greise und
gesundheitlich schwer angegriffene Reichspräsident, unterschrieb mehrere
Notstandsgesetze, die den Nazis in die Hände spielten. Der Protest der linken
Parteien blieb seltsam kraftlos und unkoordiniert, bis zuletzt waren sich
Kommunisten und Sozialdemokraten spinnefeind. Statt verzweifelter Gegenwehr boten sie ein jämmerliches Bild
der Ratlosigkeit und Apathie.
    Als ›rechts‹ galten übrigens Stahlhelm und Deutschnationale, als
›links‹ SPD und KPD ,
als mittig das katholische Zentrum und ein paar unbedeutende liberale Parteien.
Die NSDAP , offiziell extrem-rechts eingeordnet, war
dabei, objektiv betrachtet, irgendetwas anderes, mit dem konventionellen
Parteien-Spektrum nicht zu fassen.
    Max, an dem die Ereignisse eher abperlten, als daß sie ihn
alarmiert hätten, erfüllte sich einen lange gehegten Traum und suchte Albertina
auf. Sie war nicht allzuschwer zu finden, arbeitete noch immer als
Garderobiere, seit neuestem im Femina , dem beliebten Ballsaal mit zweitausend
Sitzplätzen, elektrisch hebbarem Parkett und drei Tanzkapellen. Er besuchte sie
mittags bei ihr zuhause in Moabit, klingelte aufs Gradewohl. Sie erkannte ihn
kaum wieder, fühlte sich aber geschmeichelt, als der junge Mann mit der leisen
Stimme und den dunklen, traurigen Augen ihr erzählte, wie sehr er unter ihrem
Verlust gelitten habe. Sie kochte dem Gast Kaffee und betrachtete staunend den
großen Strauß roter Rosen. Max stand vom Stuhl auf und setzte sich neben
Albertina auf das Sofa. Ob er sich ein wenig an sie drücken dürfe, wie damals?
Verwirrt ob dieser Bitte, sagte sie nicht ja noch nein und duldete es, daß Max
ein Ohr zwischen ihre Brüste bettete. Ich kann deinen Herzschlag hören,
flüsterte er. Wie ein fernes Echolot. Kann ich heute bei dir bleiben? Albertina
begann zu weinen. Sie fühlte sich veralbert, und wenn nicht veralbert, dann war
dieser junge Mensch doch eindeutig verschroben. Zu viele Erinnerungen an eine
große, hoffnungsvolle Vergangenheit kehrten zurück. Er müsse jetzt gehen, sagte
sie barsch, das führe zu nichts, sei doch verrückt. Nein, sie duldete keine
Widerrede, sie schob Max, der sich eben mit offenem Mund in ihr verschwitztes
Decolleté wühlen wollte, von sich fort und wies ihm die Tür. Er winselte und
bettelte, bot ihr Geld für die Nacht. Sie ohrfeigte ihn, obgleich die Summe ihr
an sich imponierte und sie für Sekunden ins Grübeln geriet. Doch Albertina war
in jener Zeit mit einem Tischler befreundet, der, obwohl er nur alle paar
Abende vorbeikam, die Eifersucht in Person war. Ihr blieb wenig anderes übrig,
wenn sie sich nicht auf ein ganz und gar unvorhersehbares und närrisches
Abenteuer einlassen wollte, als Max aus ihrer Wohnung – und – das war das
Allerschlimmste – den riesigen, duftenden Rosenstrauß in den Müllkübel zu
werfen.
    Max suchte Trost im Nachtleben. Man sah ihm seine siebzehn
Jahre nicht unbedingt an, er ließ sich einen Schnurrbart wachsen, um älter zu
wirken. Einige Male war ihm der Einlaß in gewisse Etablissements verwehrt
worden. Seitdem er einen eleganten Anzug trug, kam das kaum noch vor und ganz
sicher nicht in den Clubs der Homosexuellen, wo er schnell Freunde fand und
Kontakte zu den üblichen Vergnügungen – Kokain, Partys unter erotischen Motti,
Transvestitenfeten, bis hin zu Hinterzimmerorgien jeglicher Couleur. Ein
paarmal ging er mit älteren Herren mit und genoß das Gefühl, begehrt und beschenkt
zu werden. Aus Gleichaltrigen machte er sich wenig, sie waren ihm in den
allermeisten Fällen zu oberflächlich und charakterlos. Das Milieu des
nächtlichen Berlin um den Nollendorfplatz herum war in ganz Europa berühmt und
berüchtigt; jeglicher noch so entlegener Trieb konnte hier befriedigt werden,
wenn man Glück hatte, sogar ohne dafür zahlen zu müssen.
    Berlin, das war so viel. Berlin, das waren:
    Die Dominas, die mit hohen, oft schillernd roten, goldenen oder
giftgrünen Stiefeln samt obligatem Bubikopf vor dem Kaufhaus des Westens auf
willige Opfer warteten.
    Berlin, das waren:
    Die Fünfuhrfrauen, die in der Sparte Geselligkeit regelmäßig
Kontaktanzeigen schalteten und ihre diversen

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