Nicht ganz schlechte Menschen
Die SAPD , das war der
größte Unterschied, forderte vehement eine Einheitsfront aller linken Parteien
und Gewerkschaften gegen den aufkommenden Faschismus. Die KPD traute nur sich selbst. Wenn überhaupt.
Von der großen Depression der letzten Jahre der Weimarer
Republik, von der Weltwirtschaftskrise und dem Leid der über fünf Millionen
Arbeitslosen bekamen die Brüder höchstens soviel mit, wie man als
Nichtbetroffener mitbekommen konnte. Sie lasen in der Zeitung darüber, sahen
die langen Schlangen der Stempelgänger vor den Arbeitsämtern, staunten über
Menschen, die breite Schilder auf dem Rücken trugen – SUCHE
ARBEIT – MACHE ALLES –, doch die konkrete Armut und Verzweiflung
ringsumher blieben in ihrer Wahrnehmung klein und namenlos, wie durch ein
Fernrohr betrachtet. Selbst Karl spürte doch, bei aller Emphase für die Sache
der Arbeiter, in keinem Moment echtes Mit-Leid im engen Wortsinn. Es ging ihm
viel zu gut dafür, und das Elend ringsumher fand wie hinter einem Gaze-Vorhang
statt, behielt etwas Abstraktes, das zwar Bedauern zuließ, echte Bedrückung
aber nicht.
Die Krise tauchte eben nicht ganz Berlin in Schwermut, es gab
genügend Inseln, auf denen das blühende Leben unvermindert weiterging, fast wie
in jenen Jahren, für die gerade die Bezeichnung Goldene Zwanziger in Mode
kam.
Ende Januar 1933 wurde, für die Loewes überraschend, Adolf Hitler
zum Reichskanzler ernannt, während die Kommunisten als zweitstärkste Kraft das Nachsehen hatten. Die NSDAP , eine
Partei, die beide Brüder über Jahre hin nicht wirklich ernstnehmen wollten,
hatte aus Geldmangel kurz vor der Selbstauflösung gestanden, bevor sie sich im
letzten Moment durch Finanzspritzen aus der Wirtschaft erholen konnte. Die SA , halb
Schlägertruppe, halb Privatarmee, die im letzten Jahr für drei Monate verboten
gewesen und vorschnell für tot erklärt worden war, zählte nun fast 400.000
Mitglieder – wo kommt nur soviel Geld her, die alle zu ernähren und mit
Uniformen auszustaffieren –, fragte sich Karl oft, wie geht das bloß? Jene
sonderbar wiederauferstandene SA organisierte am
30. Januar einen Fackelzug als Siegesfeier. Sowohl Max wie Karl trieb es zum
Brandenburger Tor, sie wurden, ohne sich zu begegnen, Zeugen des Aufmarsches und zeigten sich beeindruckt. Der eine, Max,
ganz offen, aus der spontanen Empfindung heraus, der andere, Karl, gab immerhin
zu, daß die Kommunisten, wenn sie bei der nächsten Wahl gewinnen würden,
durchaus von dem Spektakel etwas lernen könnten.
Reklame
beherrschen sie – leider – schrieb er seinem einzigen Freund,
Johann Münchinger, der die Schule abgebrochen hatte und neben der Stütze von
schwer durchschaubaren Geschäften in der Filmbranche lebte.
Du weißt, was Lenin sagte, schrieb er an Johann: Es ist eine alte Wahrheit, daß man in
der Politik oft vom Feinde lernen muß. Und du weißt auch, was er
zu dir gesagt hätte: Der Film ist für uns die wichtigste aller Künste.
Ein paar Tage darauf, die Einrichtung der neuen Wohnung
stahl viel Zeit, wurde Karl formell Mitglied der KPD ,
als gelte es, ein Zeichen zu setzen gegen die jüngsten Entwicklungen in
Deutschland. Er hatte sich pragmatisch für die mächtigste linke Partei
entschieden, die ganz auf der Linie des großen, von Karl verehrten Genossen
Stalin lag, während die gar nicht mehr zu den Wahlen angetretene, aber im
Untergrund noch agierende SAPD etliche Trotzkisten
in ihren Reihen duldete. Was an Trotzkisten eigentlich so verabscheuungswürdig
sein sollte, nein, das hatte niemand Karl bisher erklären können. Und es tat
auch nichts mehr zur Sache. Um elf Uhr dreißig morgens, am 4. Februar, setzte
Karl Loewe seine Unterschrift unter eine lange Beitrittserklärung und bekam ein
vorläufiges Parteibuch ausgehändigt.
Fast zeitgleich, im Grunde nur Minuten später, wurde die KPD als staatsfeindliche Partei geächtet , was immer das
bedeuten mochte, denn es handelte sich nicht, wie man annehmen könnte, um ein
Verbot. Praktisch bedeutete es, daß ohne legitime Grundlage, doch mit einer
Entschiedenheit, die niemand für möglich gehalten hätte, die Jagd auf ihre
ranghöchsten Mitglieder begann. Die neuen Machthaber griffen zu, errichteten
für politische Gegner erste sogenannte Konzentrationslager ,
schreckten auch vor Verschleppung und Mord nicht zurück. Das Ausmaß der Brutalität,
die Hemmungslosigkeit des Terrors, mit der eine radikale Partei die Gunst der
Stunde für sich zu nutzen wußte, machte jeden
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