Nicht ganz schlechte Menschen
die Entscheidung Karl
mitnahm. Es handele sich doch nur, schrieb er in einem Expreß-Brief, um eine
beleidigte Schnepfe und deren gierige Eltern, an so etwas müsse man keine
unnützen Gedanken verschwenden.
Wenn man so verdorben ist wie du, antwortete Karl, sicher nicht. Dir
ist sowieso schon alles egal.
Noch immer war nicht klar, woraus nun die Erbmasse genau
bestehen würde. Karl Loewe wohnte in einer billigen Pension, sein offizieller,
der Behörde gemeldeter Wohnsitz aber lautete c/o Dr. Hans Malies, Schillerstr.6,
Leipzig.
Prompt wurde an jene Adresse ein Einberufungsbescheid versandt.
Malies verweigerte, dazu besaß er jedes Recht, vorerst die Annahme des
Einschreibens und riet seinem Klienten dazu, sich schleunigst zu verflüchtigen,
es gehe um Tage, nein, eher um Stunden. Am besten sei es, wenn er an den
Bodensee fahre, sich über die grüne Grenze in die Schweiz und von dort zurück
nach Frankreich absetzen würde. Seinen Anteil aus der Erbschaft könne er dann
per internationaler Überweisung bekommen.
Karl ahnte, daß man ihn gründlich übers Ohr hauen würde, aber in
zunehmender Panik befolgte er Malies’ Ratschlag. Während der Zugfahrt von
Leipzig nach Friedrichshafen entging er jeder Kontrolle. Er wollte aber nicht
bei Nacht über die Grenze, allein schon, weil er sich im Dunkeln fürchtete,
zumal in einer ihm unbekannten Gegend. Ihm fiel etwas Besseres ein. Mit einer
Art Tretboot, das eigentlich den Gästen eines Badebetriebs zu Amüsierzwecken
diente, setzte er, am hellichten Tag, bei gleißendem Sonnenlicht, ans rettende
Ufer über. Er war dabei nur mit einer Badehose bekleidet, seine Kleidung trug
er in einer Strandtasche mit sich. Keines der Patrouillenboote schöpfte
Verdacht – wer hat schon vor, mit fast nichts auf der Haut das Land zu
verlassen?
Nach vier aufregenden Wochen, einem illegalen Grenzübertritt und
einer Odyssee durch die so paranoide wie bürokratische Schweiz kam er mit dem
Zug in Paris an, und es war ihm da schon egal, ob er jemals auch nur einen
Pfennig bekommen würde. Tatsächlich wurden ihm per Western-Union-Telegraph
umgerechnet neunhundert Reichsmark überwiesen. Malies entschuldigte sich in
einem kurzen Brief, mehr sei aus dem alten Häuschen nicht herauszuholen
gewesen, und erwähnte die fällig gewordene Reichsfluchtsteuer, etwaige
Notarkosten, das Zugticket und etliches andere, darunter die angeblich
unbezahlt gebliebene Rechnung für das Pensionszimmer. Auch habe er wegen der
verweigerten Annahme des Einschreibens das Mißtrauen der Behörde auf sich
gezogen.
Malies verbuchte auf relativ legale Weise beinahe 12.000 Reichsmark
als Honorar und Unkostendeckung. Ein Routinefall. Karl Loewe würde deutsches
Gebiet nie mehr betreten können, ohne mit ernsten Konsequenzen rechnen zu
müssen. Doch war das Unternehmen am Ende nicht vergebens gewesen. 900 Reichsmark
waren immerhin etwas. Malies hätte sich im Grunde selbst diese milde Gabe
sparen können, ging aber lieber auf Nummer sicher. Wer konnte schon wissen, wie
die Zukunft aussehen würde. Alles schien möglich.
Karl stellte ein Zittern an sich fest, als er das Geld in
Empfang genommen hatte. Er flanierte über den Boulevard de Raspail, blinzelnd,
schmunzelnd, und überlegte, ob und wie er sein Abenteuer in irgendeine Art von
Artikel verwandeln konnte. Plötzlich fühlte er eine Hand schwer auf seine
Schulter schlagen und erschrak, schnellte herum.
Marius Müller, inzwischen Redakteur der neugegründeten Pariser Tageszeitung ,
erwischte Karl auf dem Place de L’Odeon. Er unterbreitete ihm ein Angebot,
nicht, wie man jemandem ein Angebot unterbreitet, eher so, wie man einen
Schuldner am Schlafittchen packt und an der Flucht hindert. Karl habe doch
immer einen Posten gesucht, einen Posten von Bedeutung, ob das stimme oder
nicht? Stimmt, sagte Karl, wobei sein Atem für das Wörtchen kaum genügte.
Na dann, na also! Er, Müller, könne für ihn, Loewe, endlich etwas
tun. Und umgekehrt. Es werde ein Schachspieler gebraucht, für die
Volksolympiade in Barcelona. Es gebe eine deutsche Mannschaft von beachtlicher
Spielstärke, aber das vierte Brett könne nicht adäquat besetzt werden. Leider.
Entschuldigung?
Karl vermochte dem Redeschwall Müllers so schnell keinen Sinn
abzugewinnen.
Ob er Interesse habe, vom 19. bis zum 26. Juli das kommunistische
Exil-Deutschland sportlich zu vertreten? In Barcelona. Die Zugfahrt zweiter
Klasse würde von der Zeitung gezahlt, auch ein Verpflegungsgeld von sechzehn
Francs
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