Nicht ganz schlechte Menschen
pro Tag. Das sei, zugegeben, nicht arg viel, aber man könne zur Not doch
davon leben.
Karl, sobald er verstanden hatte, worum es ging, sagte sofort zu.
Der sportliche Aspekt war ihm herzlich egal. Bei der Gegen- oder Volksolympiade
in Barcelona sollten, wie er alsbald erfuhr, auch Volkstanz, Musik und Theater
zu den Wettkampfsportarten gehören; niemand auf der Welt würde diese
pazifistische Protest-Veranstaltung jenseits ihres symbolischen Gehalts
sonderlich ernstnehmen. Aber Karl würde eine Zugfahrt ins ersehnte Spanien
bezahlt bekommen und sogar noch etwas Taschengeld. Er geriet darüber völlig aus
dem Häuschen.
Stellt euch vor, sagte er Max und Ellie, wen ihr vor euch habt?
Wen haben wir denn vor uns? Fragte Ellie. Karl warf ihr mit einer
abschätzigen Geste das geliehene Reisegeld vor die Füße.
Einen Olympioniken!
Ach? Sieh mal an. Max runzelte die Stirn.
Jawohl, ich werde das andere Deutschland vertreten. In Barcelona. Ich! Werde
Schach spielen gegen Gegner aus der ganzen Welt!
Besser gegen Gegner als für den Führer! Max, das wollte zu seinem
Naturell so gar nicht passen, untergrub den erhabenen Moment, ließ ein
mittelmäßiges Wortspiel vom Stapel und schob gleich noch ein abgeschmacktes
hinterher: Barcelona? Das kommt mir spanisch vor.
Verdammte
Brut! Schrie Karl und lachte.
Schon am nächsten Morgen erhielt er durch einen Botenjungen die Hin-
und Rückfahrkarte für die katalonische Hauptstadt. Verpflegungsgeld lag keines
bei.
Drei Tage später brach der spanische Bürgerkrieg aus. Die Olimpiada Popular wurde prompt abgesagt und Karl per Telegramm gebeten, das Ticket an die Zeitung
zurückzusenden. Was er nicht tat. Er verhielt sich schlichtweg so, als sei das
Telegramm nicht rechtzeitig eingetroffen, und bestieg am 17. Juli 1936, um fünf
Uhr morgens, am Gare de Lyon den letzten regulären Zug, reiste als Tourist, voller Komfort und ohne Problem, nach
Spanien ein. Stunden später wären die Grenzen bereits geschlossen gewesen, und
es hätte für einen Einzelgänger etlicher Schliche und Erklärungen bedurft, um
die Grenzposten der jeweiligen Kriegsparteien zu passieren. Während der Fahrt
bestellte Karl vom Schaffner sämtliche verfügbaren Zeitungen, er wollte über
Art und Ausmaß des Konflikts ausreichend informiert sein. Auch ein spanisches
Wörterbuch studierte er beflissen und beherrschte bei der Ankunft in Barcelona
bereits die Zahlen von eins bis zehn sowie fünfzig Vokabeln.
DIE GRÖSSE DER ZEIT
Pierre
Geising erwies sich als nicht ganz so vorhersehbar, wie Ellie angenommen hatte.
Obschon seine Frau über Vermögen verfügte, die bedeutendste Attraktivität, die
ihr in Geisings Augen geblieben war, spielte der Hotelbesitzer durchaus mit dem
Gedanken, sich vielleicht von ihr zu trennen. Seine schnell entstandene
sexuelle Abhängigkeit von Ellie war die eine Motivation, hinzu kam, daß er sich
wirklich verliebt hatte, in einem Ausmaß, von dem man bei einem geistig relativ
gesunden Vierzigjährigen nicht ausgehen konnte. Geradezu närrisch und pubertär
verhielt er sich, zum Beispiel, wenn er Ellie im Bad einschloß und nicht gehen
lassen wollte, bevor sie ihm einen Liebesschwur durchs Schlüsselloch geleistet
hatte, wenn er seinen nackten Körper vor dem Abschied gegen ihren preßte, bis
Ellie kaum noch atmen konnte, wenn er ihr übertriebene Geschenke machte, nach
dem Mantel noch neue Schuhe und eine silberne Halskette mit kleinen Saphiren.
Daß es sich bei den Saphiren um Fälschungen handelte, spielte keine Rolle, denn
Geising hatte sie in gutem Glauben einem Flohmarkttrödler an der Porte
de Clignancourt abgekauft, und alle waren glücklich, Geising, Ellie – und der
Flohmarkttrödler sowieso.
Wenn Ellie nach den nachmittäglichen Schäferstündchen aufbrach in
Richtung der Rue Clovis, litt Pierre Geising echte Schmerzen in der Brust,
Stiche und Beklemmungen sowie eine nicht näher beschriebene Leere im Kopf, die
ihn, behauptete er, mit ihrem Gewicht erdrücke. Eine Leere habe doch kein
Gewicht, meinte Ellie. Dochdoch, insistierte Pierre, diese Leere schon. Eine
finsterschwarze Schwerleere sei das, die sie in ihm hinterlasse.
Finsterschwarz. Aha. Ellie mußte lächeln. Seine flehentlich geäußerte Bitte,
sie solle nur einmal eine Nacht im Monbijou verbringen und morgens an seiner
Seite erwachen, lehnte Ellie weiterhin ab, Halskette hin oder her. Sie wußte,
wie man frische Verliebtheit am längsten konserviert: indem man ihr sparsam
nachgibt, ihren Hunger nie sättigt
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